Wir hatten letztes Jahr ein etwas ungünstiges Händchen bei unserer Urlaubsplanung: Im Mai entschieden wir uns, im Oktober nach Kreta zu reisen.
In der Annahme, dass die Wellen der Sparpolitik sich bis dahin gelegt hätten und auf Kreta die Ökonomie des Festlandes keine große Rolle spielen würde, buchten wir ein kleines feines Appartement mit Selbstversorgung und gleich auch noch den Mietwagen auf der Insel mit Frühbucherrabatt.

Um den Urlaub so günstig wie möglich und spannend zu gestalten, sah unsere Planung vor, nach Athen zu fliegen und von Piräus mit der Fähre überzusetzen.
Vom Flughafen kommt man normalerweise, so versicherte uns das Internet, recht bequem in etwa einer Stunde mit dem Bus nach Piräus. Bis zum letzten Check-In auf die Fähre blieben uns etwa vier Stunden Zeit.

Auf gepackten Sachen sitzend

Berlin, 15. Oktober. Da die Lage in Griechenland immer unruhiger wird, hängen wir ständig im Internet oder am Radio, um die neuesten Meldungen abzugreifen. Ein Generalstreik wird mal für einen, mal für zwei und mal für drei Tage angekündigt – und wieder abgesagt; dann teilweise abgesagt und wieder angesetzt.
Am 18. wird der Flug erst einmal gestrichen. Die Verhandlung mit der Fluggesellschaft, uns einfach woanders hinzufliegen, bringt nichts, und wir können nicht spontan etwas anderes buchen, denn wir haben für den Flug lächerlich wenig Geld ausgegeben und alles andere (Fährüberfahrt, Mietwagen, Appartement) ja einzeln bezahlt – wehe dem Individualreisenden.

Ich bin super enttäuscht – wir haben uns seit Monaten auf diesen Urlaub gefreut. Deshalb greifen wir kurzentschlossen zu, als uns am Abend des 19. mitteilt wird, dass der Flug nun doch stattfinden wird, weil am nächsten Morgen der Generalstreik beendet sein soll – ohne zu wissen, ob das tatsächlich der Fall ist.

Alter Affe Medien

Am nächsten Mittag checken wir also in einen fast leeren Flieger ein. Athen empfängt uns mit strahlendem Sonnenschein, allerdings verheißen die Bilder in den Flughafenfernsehern von der letzten Nacht nichts Gutes: Man sieht Menschenmengen, Demonstranten, Polizisten, die mit Tränengas schießen, blutende Menschen.
Wir haben uns natürlich mit der aktuellen Lage auseinandergesetzt und wissen, dass wir uns auf ein Wagnis einlassen. Ich habe allerdings nicht damit gerechnet, dass die Lage derart eskalieren würde. Aber wir wissen auch, dass Vorsicht geboten ist: Medien verbreiten Ereignisse, sie erzählen weniger, was nicht passiert ist. Ist die Lage tatsächlich „eskaliert“ oder täuschen die Bilder? Wie viele Menschen demonstrieren wirklich auf dem zentralen Syntagma-Platz vor dem Parlament?

Syntagma-Platz in Athen mit dem Parlament

Syntagma-Platz in Athen mit dem Parlament

Heute, fast ein Jahr später, wissen wir, dass es vielen Griechen immer noch substanziell sehr schlecht geht, und sogar schlechter. Damals haben die Demonstranten den Syntagma-Platz gefüllt; wer nicht da war, hat in der Regel mit den Demonstranten sympathisiert. Heute bleibt der Platz häufig leer. Sind die Griechen müde, weil ja doch niemand weiß, wie Griechenland zu retten ist?

Mit Sorgen schauen wir ratlos auf dieses wunderschöne Land, in dem Medienberichten zufolge ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos ist (und nach einem Jahr Arbeitslosigkeit keinen Pfennig Unterstützung mehr erhält), Eltern ihre Kinder bei SOS-Stationen abgeben, Menschen ihr Hab und Gut verkaufen.

Doch wem geht es wirklich schlecht? Wem geht es gut? Wieso klappt die Wirtschaft nicht und wohin fließt vorhandenes Geld? Wieso fehlen Steuereinnahmen, und ist das tatsächlich so? Wieso hat Griechenland immer weniger Arbeitsplätze, wie kann das geändert werden, und sind wirklich so viele Bereiche korrupt, wie Medien berichten?

Blickwinkel kauderwelschen

Am fast leeren Flughafen kommt das Gepäck schnell, der Bus ist leicht gefunden und fährt uns zügig nach Piräus. Wir sind erleichtert und glücklich, alles scheint nicht nur für uns zu funktionieren: Athen ist jedenfalls augenscheinlich weit entfernt vom erwarteten Chaos. Wir nehmen die Autos auf den Straßen unter die Lupe: Weniger schrottreif als erwartet, es sind sogar viele recht teure, neuere Autos zu sehen. Ein Indiz, dass es „den Griechen“ gar nicht so schlecht gehen kann?

Auf dem Weg zum Hafen umkreisen wir erst die halbe Stadt und bekommen dann einen schönen ersten Einblick, als der Bus durch die Stadt hindurchfährt. Ich bin froh, dass der Mann früher sowas überkandideltes wie Alt-Griechisch in der Schule hatte: Auf mich gestellt wäre ich ungefähr so aufgeschmissen wie in Ägypten beim arabische-Schilder-entziffern.

Stillstand in Piräus

Unsere Fährkarten sollen wir bis zu einer bestimmten Uhrzeit im Hafenbüro abholen – was geschlossen ist. Eine nette Dame, die für das Hafengelände zuständig ist, beteuert uns, dass hier die nächsten Tage keine Fähre ablegen wird, es werde gestreikt. Sie bedaure das für uns sehr.
Noch nicht glauben wollend, dass hier unser Kreta-Urlaub wirklich enden soll, laufen wir auf dem Hafengelände herum, bis ein Polizist zu uns kommt und uns bittet, das Hafengelände zu verlassen. Es sei auf Dauer zu gefährlich, hier zu sein: „We are expecting riots“ („Wir erwarten Krawalle“).
Natürlich haben wir uns für den Notfall die Adressen einiger Hostels in Athen herausgesucht und fangen nun an, herumzutelefonieren, denn jetzt wird es bald dunkel und ich grusele mich ein bisschen bei der Aussage des Polizisten. Wir bekommen eine Zusage von meinem Favoritenhostel Travellers Inn. Viele Touristen sind vermutlich nicht in der Stadt.

Nervosität auf beiden Seiten

Die Hostels in Athen befinden sich fast alle in direkter Nähe zu Akropolis und den zentralen Syntagma-Platz, auf dem die Situation in der Nacht zuvor eskaliert ist. Auf dem Weg zum Hostel helfen uns sehr freundliche Athener und erklären uns, dass die Station des Syntagma-Platzes aus Sicherheitsgründen gesperrt ist. Also laufen wir den letzten Teil zu Fuß, und je näher wir dem Hostel kommen, umso mehr liegt Tränengas in der Luft.
Mittlerweile ist es dunkel geworden und an einer kleinen Kreuzung geraten wir in eine motorisierte Karawane von Athener Polizisten: Jeweils ein Fahrer und hinten drauf einer, der den Knüppel hält. Die Nervosität der Polizisten ist zu spüren, und als einer losbrüllt, weil einige Fußgänger nicht schnell genug aus dem Weg gesprungen sind, fahren die Motorräder einfach los. Verletzt wird aber gottseidank niemand.
Wir sind froh, als wir endlich im Hostel ankommen.

Betteln bei den Griechen

Das Hostel ist nett und sauber und freundlich und rudimentär. Das Beste: Internet kostenlos, und sogar mit akzeptabler Schnelligkeit!
Als Erstes: Essen. Nichts geht beim Absacken vom Adrenalin besser als ein gutes, fettes Mahl.
Als Nächstes: Die neuesten Nachrichten über das Internet checken. Wir hoffen immer noch, am nächsten oder übernächsten Tag auf eine Fähre zu kommen.

Am nächsten Tag strahlt zwar die Sonne, aber der Rest in mir sieht düster aus. Der Mann überredet mich, die Hoffnung auf Kreta sausen zu lassen, denn der Fährstreik ist jetzt für zwei weitere Tage angekündigt und auch dann ist nicht klar, was passiert.
Mein Kreta.
Ich hatte mir dort viele Wanderungen vorgenommen, wollte die schöne Samaria-Schlucht und die Lasithi-Hochebene sehen. Ein bisschen in Mythen und Göttergeschichten schwelgen. Aber wir haben nur acht Tage Zeit, wenn man die Reisetage abzieht, und jetzt tagelang den Urlaub mit Warten zu verbringen wäre einfach Quatsch.

Jetzt heißt es, bettelnde E-Mails schreiben: an die Vermieterin des Appartements, die Mietwagenfirma, die Fährgesellschaft. Wir brauchen das Geld, um uns einen neuen Mietwagen und eine neue Unterkunft suchen zu können.
Im ersten Anlauf versuchen wir es mit der Tränendrüse und schildern unsere Lage. Die Situationskomik, weil hier deutsche Urlauber Griechen anbetteln, entgeht mir, weil ich Zeit brauche, um mit der Situation meinen Frieden zu schließen.
Unglaublich: Innerhalb von 48 Stunden haben wir von allen die Zusage, unser Geld wiederzubekommen! Alle drücken uns ihr großes Bedauern aus. Ein derart empathisches, sympathisches Verhalten in solch einer Lage ist mir selten begegnet; es hat sicherlich ganz erheblich dazu beigetragen, mich über Kreta hinwegzutrösten.

Die Scheiße auf der Straße

Nachdem wir uns über das Internet einen Mietwagen und ein kleines Appartement auf dem Peloponnes gemietet haben, werde ich ruhiger, versöhne mich ein bisschen mit Kreta und kann Athen etwas mehr und offener wahrnehmen.

Wir besuchen das Parlament und laufen durch die Straßen, denn tagsüber ist es ruhig und ungefährlich.

Auffällig ist tatsächlich der in den Medien so häufig berichtete überquellende Müll in den Athener Straßen: Buchstäblich haufenweise stapelt dieser sich an jeder zweiten Straßenecke und stinkt aufgrund der vergangenen heißen Temperaturen zum Himmel.

Müll auf den Straßen Athens

Unglaublich viel Müll auf den Straßen Athens

Umso mehr kann man die Demonstrationen der Griechen wegen diesem Umstand verstehen, wenn man weiß, dass in Griechenland das benutzte Toilettenpapier in den, nunja, eben in den Müll geworfen wird, und nicht in die Toilette… Ich glaube, ich brauche das nicht näher ausführen… Was zunächst mit gerümpfter Nase erheitern mag, ist letztendlich hochgradig erniedrigend: Griechenlands Scheiße liegt buchstäblich auf der Straße.

Athener Diskussionen

In der U-Bahn, in den Restaurants, auf der Straße wird laut diskutiert. Die ökonomische Situation ist durch die lebhaften Athener allgegenwärtig, man müsste schon blind und taub sein, um nicht mitzubekommen, dass die Politik hier jeden im Alltag erreicht hat.

Fernseh-Interview am Syntagma-Platz

Fernseh-Interview am Syntagma-Platz

Auch wenn wir uns als Deutsche zu erkennen geben, werden wir sehr freundlich behandelt, lediglich einmal ist an dieser Stelle das Gespräch beendet. Mir ist aber nicht ganz klar, ob aus Ablehnung oder Unsicherheit. Den über die Medien verbreiteten, angeblichen „Frust“ gegenüber Deutschen spüre ich jedenfalls nicht.
Bereitwillig erklären uns viele Griechen die Lage. Wieder gab es in der Nacht „Krawalle“, ein Demonstrant starb unter etwas ungeklärten Umständen: Einige erzählen, er sei totgeprügelt worden, die Medien berichten eher von einem Herzinfarkt. Eines ist klarer Konsens: Es muss sich etwas ändern. Jetzt aber noch weiter am Sparhahn bei dem „kleinen Mann“ zu drehen, geht nicht, denn dem geht es bereits schlecht! Und: Die Regierung muss weg, die habe das alles zu verantworten.
Die Tagesschau berichtet in diesen Tagen: http://www.tagesschau.de/wirtschaft/griechenland1538.html

Um die Ecke unseres Hostels finden wir die leckerste Taverne überhaupt: Bei „Paulos“ kommt uns der Besitzer seltsam bekannt vor, bis uns einfällt, dass wir ihn in einem ARD-Bericht im Interview gesehen haben. Als wir nachfragen um sicherzugehen, wird uns sofort eine große Karaffe Wein spendiert und wir bekommen mit einem Kellner den besten Übersetzer der dauerlaufenden Liveberichte im TV. Außerdem gibt er uns noch einige persönliche Einschätzungen. Sein klares Fazit was die Demonstrationen angeht: Die „Ausschreitungen“ sind Krawallmache einiger weniger.

Athen, ein „Krisengebiet“?

Aus Deutschland müssen wir uns in der Zwischenzeit anhören, wir seien bescheuert, weil wir in einem „Krisengebiet“ urlauben. Ich vergleiche das mit dem 1. Mai in Berlin: Na klar hinkt der Vergleich inhaltlich völlig, aber die Parallele ist: Ich würde auch niemanden für bescheuert erklären, der über den 1. Mai in Berlin Urlaub macht. Ziemlich dämlich wäre natürlich, ab 22 Uhr am Kottbusser Tor den schaulustigen Touri abzugeben (oder hier am Pendant Syntagma-Platz). Wir versuchen jedoch, uns ein eigenes, kleines Bild zu machen, die bohrenden Fragen wenigstens teilweise zu beantworten und die Medienbilder vielleicht ein bisschen geradezurücken. Das gelingt natürlich in der kurzen Zeit nicht wirklich. Aber Athen ein „Krisengebiet“? Mitnichten, das ist lächerlich.

Natürlich ist es aber ein etwas komisches Gefühl und ich achte darauf, nicht zu schaulustig zu wirken. „Schauen“ ist ja immer ok, immer besser als Wegsehen, nur „lustig“ möchte ich natürlich nicht rüberkommen. Daher habe ich mich auch in Athen nur selten getraut, meine Kamera herauszuholen: Zu schwierig finde ich es, mit der Kamera einen guten journalistischen Umgang zu finden. Ich bin Urlaubsfotografin, ich habe zu wenig Ahnung, wie ich nervöse Menschen fotografieren kann, ohne ihnen auf den Schlips zu treten.

Touri bleibt Touri

Wir saugen auf, was wir können, aber bleiben natürlich dennoch Touristen. Völlig in Ordnung finde ich es daher, uns natürlich auch Athens Sehenswürdigkeiten anzuschauen.

Das Olympeion - Tempel des Zeus

Das Olympeion – Tempel des Zeus.

Für mich ist das „Geschichte gefühlt“ pur und ich schalte dann und wann sogar vom aktuellen gesellschaftlichen Geschehen ab, obwohl wir mitten in der Stadt bleiben – für Athens Tempel muss man nicht weit fahren.

Athen-Olympieion

Olympeion. Die nächsten Wohnhäuser stehen ganz in der Nähe.

Hephaisteion

Das Hephaisteion.

Athen-Odeon

Odeon – antikes Theater

Dionysos-Theater

Das berühmte Dionysos-Theater: Andächtig habe ich darüber zur Studienzeit gelesen.

Was mich fasziniert: Es gibt kaum Absperrseile, fast alles darf man anfassen und sich z.B. im Dionysos-Theater auf die alten Sitzplätze setzen. Das muss man sich mal vorstellen: Hier wurde die griechische Tragödie erfunden; auf genau diesen Sitzen haben vielleicht Demokrit und Empedokles gesessen!

Dionysos-Theater

Steinerne Sitzplätze im Dionysos-Theater (330 v. Chr.)

Dionysos-Theater

Die Rückwand des Theaters erzählt die alten Geschichten der Ilias und Theogonie

Bei der Akropolis muss man normalerweise stundenlang warten, Athen scheint aber so touristengeleert zu sein, dass wir nicht anstehen müssen.

Parthenon auf Athens Akropolis

Parthenon auf Athens Akropolis

Eingeklemmter Pferdekopf auf dem Parthenon

Autschn!

Akropolis Steine

Und gepuzzelt wird immer noch…

Das Erechtheion auf der Akropolis

Das Erechtheion auf der Akropolis

Der Lykabettus, Stadtberg Athens

Der Lykabettus, Stadtberg Athens

Mangels Reiseführer und aufgrund Internet-Unlust wählen wir die Sehenswürdigkeiten ziemlich spontan und aus dem Bauch heraus. Wir spazieren viel durch die Gegend, allerdings nur tagsüber. Rund um die Akropolis geht das wunderbar, es gibt hübsche, abgewrackte und interessante Ecken. Dass das „Anafiotika“-Viertel mittlerweile zu den Sehenswürdigkeiten Athens zählt, habe ich allerdings erst hinterher gelesen.

Athens-City

Fenster mit Aussicht

Dann geht es auf zum Peloponnes, weg von Athen. Wir wollen die Stadt, den Gestank, das Tränengas und die angespannte Stimmung hinter uns lassen; mehr Griechenland, Natur und Meer sehen, uns ein bisschen entspannen, und vielleicht ein bisschen Griechenland-Alltag kennenlernen. Doch das ist eine andere Geschichte.

Mein Fazit

Ich würde mit dieser Erfahrung immer wieder nach Griechenland fahren, auch nach Athen. Die Stadt ist wahnsinnig interessant, vielfältig, leicht zu bereisen, die Menschen sind sehr freundlich.
Das „Geschichte pur“-Gefühl ist für mich allgegenwärtig, die „alten Griechen“ werden lebendig, die heutigen Griechen sind es sowieso.
Der gegenwärtigen Berichterstattung, wonach die Griechen Deutschen gegenüber großen Groll hegen, glaube ich nur bedingt, vor allem glaube ich nicht, dass sich das negativ im Urlaub auswirken würde, solange man neugierig auf Gesellschaft und Kultur ist, im Gegenteil:
Überall dort, wo wir gefragt haben, wo wir Interesse an griechischer Gesellschaft und Politik gezeigt haben, wurden wir dankbar und sehr herzlich aufgenommen.
Für mich war und ist es die Chance, Informationen auf andere Art zu sammeln. Mein eigener Ausschnitt, meine eigene Auswahl, mein eigener Blickwinkel. Ich habe neue Bilder, einige Ideen, allerdings keinen Rat und viele Fragen bleiben. Ein guter Grund, noch einmal hinzufahren.