Erinnerungen sind etwas Seltsames. Sie wabern durch unser Gehirn, verschieben und verformen sich, bis sie ihren Platz in der linearen Erklärung unseres Selbst gefunden haben. Dort verankert verstecken sie sich manchmal oder fallen plötzlich auf uns herab: Ein Duft, ein Gedanke, eine Stimmung, ein Wort – und die Erinnerung kommt schlagartig zurück.

Neulich sah ich im Internet ein Foto, das Kairo von oben zeigte. Kairo.

Inhalt des Artikels

Kairo

Theben

Die geheimnisvolle Statue vom Luxor Tempel

„Walk like an Egyptian“

Hochzeit vor den Pyramiden

Die Adler vom Sinai

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Kairo, Stadtansicht

Etwa 20 Jahre ist es her, dass ich diese Stadt besucht habe und mit ihr ein Land, welches mir fremd war, unglaublich weit entfernt lag und von dem ich so gut wie nichts wusste. Ich erinnere mich, dass ich erstaunt war, wie schnell unser Flugzeug den Weg zu diesem entfernten Kontinent meisterte. Mein erstes Mal Afrika.

Meine Schwester und ich hatten mit dieser Ägypten-Reise unsere amerikanische Familie besuchen wollen, die dort für einige Zeit stationiert war. Doch es kam anders, die Familie musste früher abreisen, ich musste erst mein Abitur zu Ende bringen, wir verpassten deshalb die Abschiedsfeier und wollten dennoch von unserem aufregenden Plan nicht abrücken.
Ohne Ziel, mit nur vagen Vorstellungen und einem Zettel mit der Adresse eines Bekannten eines Bekannten landeten wir auf dem heute berühmten Tahrir-Platz. Vom Flughafen ließ man sich damals zum „Hotel Intercontinental“ bringen, denn „Tahrir“, das hätte kaum ein Taxifahrer in unserer Aussprache verstanden.

Kairo

Auf dem Tahrir-Platz warten wir bis zur höflichen 10. Stunde des Tages, um unserer Kontaktperson einen Besuch abzustatten. Der Taxifahrer kenne Saman Abu B., behauptet er. Wir glauben ihm kein Wort, was wäre das für ein Zufall in dieser Millionen-Stadt. Tatsächlich ist die Familie B. aber eine der bekanntesten Kairos, sollen wir noch lernen, und schwer im Touristengeschäft involviert. Offiziell: Parfüm, Kamelreiten und ein großes Taxiunternehmen. Über weitere Einnahmequellen spricht man nicht gerne.

Durch die lauteste, chaotischste Stadt, die ich in meinem jungen Leben je gesehen habe, fährt und hupt sich das Taxi in rasendem Tempo vorwärts. Wir sehen das erste Mal den Nil und sind überrascht, wie schmal der eigentlich ist.

Der Nil in Ägypten

Das Flußufer des sagenumwobenen Nils

Kairo, Innenstadt

Die Innenstadt von Kairo – ich mache leider viel zu wenig Fotos

Noch mitten im Gewühl der Stadt sehen wir sie plötzlich: Die Pyramiden von Gizeh.
Was heute durch das Internet bekannt ist, hatten wir damals nirgendwo gelesen: Die Pyramiden stehen direkt neben dem Stadtzentrum. Die Wüste auf der einen, die Stadt auf der anderen Seite, die perfekten Bilder in den Reisemagazinen zeigen das Chaos nicht. Und meine im Übrigen selbstverständlich auch nicht. Ein Gefühl für Fotografie sollte ich erst viele Jahre später entwickeln.

Kairo, Wüste

Die Grenze zwischen Stadt und Wüste, ich stehe direkt vor einer Pyramide

Wir biegen in eine Straße ein und fahren einen Fluss entlang, der entsetzlich stinkt. Frauen waschen ihre Wäsche darin, Kinder baden, Menschen schöpfen Ihr Wasser daraus, wenige Meter weiter verwesen die Tiere im Fluss und ein Autowrack schimmert im auslaufenden Diesel. Es ist das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, lebensbedrohliche Armut zu sehen. Ich sehe das erste Mal Leprakranke.

Saman empfängt uns – trotz dem wir nicht angekündigt sind – begeistert. Westliche Gäste sind gern gesehen, zumal eine große Hochzeit ansteht: Sein Sohn heiratet, es sei eine echte Liebesheirat. Saman wirkt stolz auf seine Familie, seine Errungenschaften, das schöne und große Haus, die Bildung seiner Kinder (auch der Mädchen).
Wir werden sofort eingeladen zu bleiben, alle Familienmitglieder scharren sich neugierig um uns und wir werden herumgezeigt. Uns wird das kleinste Kind in die Arme gelegt, es hat an einer Hand sechs Finger, bzw. baumelt der sechste, verunglückte Finger nur an einem relativ dünnen Hautfetzen noch an der Hand. „Glück“, bedeutet die Familie uns; das Kind bringe Glück. Ich habe Angst, den Glücksfinger aus Versehen abzureißen.

Ägyptische Familie

„Unsere“ Gastfamilie in Ägypten – das Oberhaupt, Saman, ist leider nicht darauf, aber hinten links das Brautpaar in Spe

Das Angebot von Saman und seinem bald vermählten Sohn, zu viert noch vor der Hochzeit einen gemeinsamen Urlaub am roten Meer zu machen, ist extrem befremdlich, aber sie fragen höflich und auch kein zweites Mal, als wir ablehnen.
Die Mädchen sind zu schüchtern, um mit uns zu reden, seine Frauen können kein Englisch, Saman selbst spricht es sehr gut. Wir werden ständig verköstigt, das Frühstück mit dem mir unbekannten Zuckerkram ist gewöhnungsbedürftig, aber es macht höllisch satt.

Wohnzimmer Ägypten

Gesessen wird auf dem Boden. Die Sessel sind nur für besondere Anlässe beziehungsweise zum Zeigen, dass man sie besitzt

Saman hilft uns, einen Plan auszuarbeiten, was wir alles ansehen müssen und natürlich können wir die Einladung zu einer echten Ägyptischen Hochzeit nicht ausschlagen.

Wir versuchen, eine eigene Unterkunft zu finden, und blättern einen zerfledderten Lonely Planet durch. Der Fahrer Samans muss uns helfen, denn wir können die Häuser nicht finden, weil wir die Straßenschilder nicht entziffern können. Doch wir finden nichts, was in der Mitte zwischen Rattenloch und 100 Dollar Hotel liegt, das wir uns nicht leisten können, kehren wie Bettler wieder zu Saman zurück und nehmen das Angebot der Unterkunft an, obwohl wir uns wegen der Umstände, die wir machen, und der vorausgegangenen Einladung nicht ganz wohl dabei fühlen.

Mit schlechtem Gewissen bleiben wir also die Zeit der Hochzeit bei Saman. Vorher aber besuchen wir – Theben.

Theben

Die Ilias hatte ich damals noch nicht gelesen, aber vom sagenhaften Theben hatte ich gehört. Mit dem Zug reisen wir entlang des Nils gen Süden und fühlen uns wie im Film.

Schwer vereinbart sich das Gefühl des zauberhaften Wortes Theben mit dem Blick aus dem billigen Hotelfenster in Luxor.

Esel Ägypten

Straßenszene in Luxor

Luxor, Blick aus dem Hotelzimmer

Luxor – Blick aus dem Hotelzimmer

Es sind knapp 50 Grad im Süden Ägyptens, es ist der heißeste Sommer seit Jahrzehnten und wir lernen innerhalb einer Nacht, wie man schläft, ohne dass sich irgendwelche Körperteile berühren. Tagsüber fröstele ich durchgehend, weil die Haut vor lauter Schweiß ständig nass ist und durch den Wind ausgekühlt wird. Zudem habe ich seit Tagen Dünnpfiff und außer einer Handvoll Reis nichts mehr bei mir behalten.

Von der Stadt Theben ist nichts mehr übrig, deshalb existiert der Name heute nur noch in Erzählungen. Heute fährt man hierher, um alte Tempelanlagen und Gräber zu besuchen. Ich versuche gar nicht erst, mir die historische Reihenfolge der Pharaonen und Namen der Dynastien zu merken: Ich habe gerade drei Monate lernen fürs Abi hinter mir.

Wir besuchen die Memnonkolosse, die mich noch mehr beeindrucken als die Pyramiden: Diese riesigen Kolosse wurden jeweils aus einem Stein gehauen, der hierhergebracht wurde, und das vor fast 3400 Jahren. Ich lerne: Auch sagenhaft alte Geschichte lässt sich erfahren. Ich fühle mich wie mitten zwischen den sieben Weltwundern.

Memnonkolosse in Ägypten

Die berühmten Memnonkolosse haben mich damals wahnsinnig beeindruckt

Memnos. Tutanchamun. Die Namen fangen an zu klingen.
Im Tal der Könige Ägyptens besuchen wir die Tempel und Gräber von Hatschepsut und Ramses I, aber ich bin an diesem Tag zu schwach, um mich lange auf den Beinen zu halten. Es ist heiß und fremd und anders und fühlt sich seltsam und aufregend an. Aber aufregend schön.

Das Tal der Könige in Theben

Das Tal der Könige in Theben

Das Tal der Könige ist eigentlich eine riesige Anlage mit vielen Gräbern - und damals oberhalb recht unscheinbar

Das Tal der Könige ist eigentlich eine riesige Anlage mit vielen Gräbern – und damals oberhalb recht unscheinbar

Innenansicht eines Grabes im Tal der Könige

Innenansicht eines Grabes im Tal der Könige

Grab Ramses I

Das Grab Ramses I. Man beachte das megaschicke Batikkleid.

Die Karnak-Tempel beeindrucken durch ihre unglaubliche Größe und die dicken Säulen. wir schleichen in der brütenden Hitze und der seltsamen Stille zwischen den riesigen Säulen und halb verfallenen Hallen umher.

Karnaktempel Ägypten

Unbeschreiblich, das erste Mal zwischen so alten und berühmten Säulen umherzulaufen

Tempel in Ägypten

Die geheimnisvolle Statue vom Luxor Tempel

Der Luxor Tempel ist fast wie ausgestorben und ich muss wieder an Agatha Christie denken, die mich seit dem ersten Anblick des Nils nicht loslässt.

Luxortempel in Ägypten

Frontansicht des Luxortempels – unglaubliche Größe

Mit leichten Krämpfen, verursacht durch den Mineralienmangel, stolpere ich hinter meiner Schwester her, die einem Mann im langen, weißen Gewand folgt. Er spricht nicht mit uns, zeigt nur durch Handbewegungen, dass wir ihm folgen sollen. Immer weiter geht es in die Anlage hinein, ich finde es gruselig und möchte umkehren, aber meine Schwester ist neugierig und will ihm folgen. Ich bin zu schwach, um zu protestieren.

Luxor-Tempel in Ägypten

Luxor Tempel

Vor einem kleinen Steinhaus, was hier irgendwie nicht herzupassen scheint, bleibt der Fremde stehen und zieht einen großen Schlüssel aus der Tasche seines Gewandes. Er schließt die Tür auf, schiebt uns vor sich ins dunkle Innere hinein und lässt die Tür wieder zufallen – ich sehe uns schon gefesselt auf dem Boden liegen. Durch das löchrige Dach fällt etwas Licht und ich erkenne eine seltsame Statue mit Frauenkörper und einem Fuchskopf. Sie ist aus Stein und wahnsinnig gut erhalten, was hier, wo alles auseinander zu bröckeln scheint, seltsam anmutet.

Fruchtbarkeitsgoettin-Statue

Die Frauen-Fuchs-Statue

Der Fremde nimmt meine Hand und legt sie zuerst auf die Brust der Statue und dann auf meine Brust. Ich protestiere laut und sage meiner Schwester, dass der Perversling nur aufs Betatschen aus ist. Sie ist sich da nicht so sicher. Der Fremde lächelt weiter freundlich und zahnlos, schiebt uns wieder aus der Hütte hinaus, und wieder zeigt er uns, wo wir lang gehen sollen. Nach etwa 150 Metern kniet er sich vor ein Loch neben einer Säule. Er tut, als würde er sich waschen und zeigt auf uns. Dann erhebt er sich und drückt mich mit den Schultern herunter. „Siehst Du“, sage ich erschöpft zu meiner Schwester, „Betatschen, darum geht’s!“.

Zurück im Hotelzimmer hält mir meine Schwester triumphierend den Lonely Planet unter die Nase: Der Fremde hat uns tatsächlich zur Statue der Fruchtbarkeitsgöttin geführt. Das Loch im Boden war früher eine Quelle, in der sich Frauen wuschen, um fruchtbar zu sein.
Wir haben dem Fremden definitiv zu wenig Bakschisch gegeben. Und unfreundlich war ich auch. Mein schlechtes Gewissen wird durch den Toilettenruf unterbrochen.

„Walk like an Egyptian“

Wieder zurück in Kairo startet die dreitägige Hochzeit, wie es bei reichen Leuten üblich ist. Abends wird getanzt und gefeiert, tagsüber besichtigten wir die Stadt, bestaunen die Persergräber, die Muhammad Ali Moschee mit dem grandiosen Ausblick über Kairo, die Pyramiden, darunter die Djoser-Pyramide, die älteste Pyramide der Welt und die nasenlose Sphinx.

Muhammad-Ali-Moschee

Der klägliche Versuch, mit einer Billig-Filmkamera das Innere der Muhammad-Ali.Moschee einzufangen

Muhammad Ali Moschee

Das Becken zum Füße Waschen in der Muhammad Ali Moschee

Kairo, Stadtansicht von der Muhammad Ali Moschee

Ausblick über Kairo von der Muhammad Ali Moschee

Djoser-Pyramide in Ägypten

Die Djoser-Pyramide ist die älteste erhaltene Pyramide der Welt.

Ich erlebe zum ersten Mal eine Schar Asiaten auf hektischer und wahnsinnig schnelllebiger Weltreise – das Erlebnis dauert gefühlt 3 Sekunden und lässt mich noch eine Stunde lang verwirrt zurück.
Wir möchten uns T-Shirts bedrucken lassen („I don’t need a hotel, I don’t need a camel ride“) und lernen, dass einmal höflich und bestimmt „Nein“-Sagen reicht. Ich merke, dass sich Verschleiern manchmal Vorteile haben kann.
Wir lernen, wie man in Kairo die gefühlt achtspurigen Straßen überquert („Walk like an Egyptian“ – „Gehe wie ein Ägypter“), setzen uns peinlich berührt auf Kamele (ein Angebot Samans, was wir nicht ablehnen können), verirren uns auf dem Weg zum Markt, trinken höflich tonnenweise Tee in Läden, in die wir nicht hineinwollten, kaufen Teppiche (kein Witz).
Wir sehen das erste Mal Kinder arbeiten: In einer Weberei führt man uns völlig unbesorgt die arbeitenden Kinder vor.

Wir schaffen es, uns auf dem Fußboden so an den Tisch zu setzen, dass dem Gastgeber nicht die Fußsohlen gezeigt werden, denn das wäre sehr unhöflich.
Wir verstehen, wie wir den besten Preis für die Taxifahrten aushandeln und besuchen das wunderbare Ägyptische Museum, das im übernächsten Sommer seinen ersten Terroranschlag erleben sollte.
Ich schaffe es, die Ägyptische Polizei davon zu überzeugen, dass mein Drehtabak keinerlei Drogen enthält (und rauche anschließend dann doch lieber gekaufte Zigaretten).

Kamelreiten vor den Pyramiden

Das Kamelreiten ist mir heute noch schlimm im Gedächtnis. Die Kamele haben die ganze Zeit geschrien und wirkten sehr schwach.

Kinder arbeiten in einer Weberei in Ägypten

In den Webereien arbeiten auch Kinder.

Persergräber und Frau

Meine hübsche Schwester vor den „Persergräbern“ bei Kairo

Hochzeit vor den Pyramiden

Jeweils am Abend lädt Saman die Gäste in sein Haus: Musik und Tanz und stundenlanges „Horsedancing“.

Geschmücktes Haus in Ägypten

Samans riesiges Haus und die Hochzeitsfeier des ersten Abends.

Die Frauen dürfen dabei nur in einem abgesonderten Bereich tanzen, die Männer und die Europäischen Besucher – auch wir – nehmen dagegen im Hof auf Stühlen in der ersten Reihe Platz, wir sind Ehrengäste. Getrunken wird nicht, denn Alkohol ist verboten. Ich habe dringende Lust auf ein Bier.

Ägyptische Hochzeit: Die Männer tanzen und sitzen in der Mitte, die Frauen sind nur im Seitenbereich zugelassen. Wir allerdings sind Ehrengäste.

Ägyptische Hochzeit: Die Männer tanzen und sitzen in der Mitte, die Frauen sind nur im Seitenbereich zugelassen. Wir allerdings sind Ehrengäste.

Uns wird der Ablauf nicht erklärt und nicht gesagt, was von uns erwartet wird. Ich habe ständig das Gefühl, mich falsch zu verhalten.

Am dritten Abend zieht die gesamte Gästeschar durch Samans Wohnviertel, das nicht weit von den Pyramiden entfernt ist.

Ägyptische Hochzeit

Hochzeitsgäste auf dem Weg

Erst spät verstehen wir, dass Saman ein riesiges, nach oben offenes Zelt vor die Pyramiden hat aufbauen lassen, Platz für geschätzt ein- bis zweitausend Menschen. Die Hochzeit, schätzt ein anderer Europäischer Gast, der uns über die wichtigsten Gebräuche aufklären kann, hat Saman etwa 1-2 Jahresgehälter gekostet.

Bühne der Ägyptischen Hochzeit

Auf der Bühne wird getanzt, gesungen, verhandelt und verkündet – wir blicken da weniger durch

Verhandlung Ägyptische Hochzeit

Der Verhandlungstisch der Familienoberhäupter. Hier werden die Hochzeitsbedingungen ausgehandelt.

Während die Männer der Familien des Brautpaares auf einer Bühne am Tisch um den Brautpreis verhandeln, wird die Gästeschar unterhalten: Ein Mann mit Megaphon läuft durch die Reihen, ab und an sagen ihm Leute etwas oder stecken etwas zu, dann brüllt er ins Megaphon. Uns wird erklärt, dass die Menschen dem Brautpaar Geldgeschenke geben. Die Dankesreden und Lobpreisungen an die Spender tönen dann durchs Megaphon. Für mich ist es so skurril wie interessant.
Eine Kinderhochzeit wird bekannt gegeben, genauer: Zwei Kinder, sie vielleicht fünf, er etwa acht Jahre alt, werden einander versprochen, was mit großem Jubel einhergeht. Zu welchen Familien die Kinder gehören wird mir nicht klar.

Kinderhochzeit Ägypten

Kinderhochzeit: Die beiden Kleinen im Vordergrund werden einander versprochen. Besonders der Junge ist unglaublich stolz.

Es wird getanzt und gesungen, die Frauen wie üblich in einem kleinen hinteren Bereich des Zeltes. Eine Bauchtänzerin gibt auf der Bühne eine Show.

Bauchtänzerin

Die Bauchtänzerin wirkt seltsam angesichts dessen, dass die Frauen sich nur im hinteren Teil des Zeltes aufhalten

Nach der Bauchtänzerin herrscht allgemeine Tanzstimmung, die älteste Tochter muss auf der Bühne tanzen und ist – das sieht man ihr an – darüber nicht begeistert. Mit ihren 15 Jahren ist es wahrlich eine Mutprobe, vor diesem riesigen Publikum aufzutreten. Da deutet Saman auf uns. Als sie auf uns zukommt, schwant mir Böses, aber sie ergreift die Hände meiner Schwester, die größer ist als ich und hübscher, sie ist das Ideal ägyptischer Männer für eine Affäre, nach deren Angeboten der letzten Tage zu urteilen. Ich hingegen bekomme Heiratsanträge. Doch meine Schwester zieht ihre Hände zurück, lacht und zeigt auf mich.
Es ist das zweite Mal in meinem Leben, dass ich im Erdboden versinken möchte und das erste Mal, dass ich meiner Schwester aus tiefstem Herzen eine klatschen möchte. Was dann passiert, ist traumatisch und entwürdigend und ich werde kein weiteres Wort darüber verlieren. Nur so viel:
Ich kann immerhin von mir behaupten, dass ich mich auf einer Bühne vor den Ägyptischen Pyramiden vor über tausend Ägyptern lächerlich gemacht habe.
Und nein, davon habe ich leider kein Foto. So ein Pech.

Die Feier dauert bis in die Nacht hinein und wir sitzen dort im Zelt vor den berühmten, tausende Jahre alten Pyramiden unter dem Ägyptischen Sternenhimmel. Wie gut, dass das Megaphon und die gesammelte Gästeschar völlig unromantisch herumbrüllt, ich hätte sonst wohl gedacht, dass der Himmel nicht schöner sein kann.

Die Adler vom Sinai

Nach der Hochzeit und zum Abschluss der Reise fahren wir nach Dahab am Golf von Akaba, um ein paar Tage auszuspannen. Wir nehmen, wie üblich, den Bus, und dieses Mal machen wir den Fehler, den Nachtbus zu nehmen. Völlig unerfahren setzen wir uns bei 40 Grad Hitze am Abend leicht bekleidet in den Bus. Als dieser losfährt, passieren zwei unschöne Dinge gleichzeitig: Der Fernseher wird angeschaltet und zeigt einen Film, der neben sehr. lautem. Geballere. erstaunlich wenig Nebenhandlung hat. Zweitens wird die Klimaanlage angeschaltet, die den Bus auf gefühlte 8 Grad herunterkühlt. Wir haben unsere Klamotten selbstverständlich unten im Gepäckraum. Nach weniger als zwei Stunden Fahrt sind meine Schwester und ich völlig durchgefroren und von der Lautstärke derart aggressiv, dass das Überleben der Mitfahrer einem Wunder gleicht.

Am frühen Morgen, es ist noch dunkel, hält der Bus. Der Fahrer kommt zu uns und bedeutet uns, dass wir hier aussteigen müssen. Wir verstehen kein Wort, draußen ist weit und breit absolut nichts zu sehen, niemand im Bus kann Englisch, mehrere (ausschließlich männliche) Insassen reden hektisch auf Arabisch auf uns ein. Wir weigern uns auszusteigen, schließlich haben wir die Fahrt bis Dahab bezahlt, aber der Fahrer wird laut und sehr nachdrücklich. Als unsere Rucksäcke an den Straßenrand gestellt werden, bleibt uns nichts anders übrig, als den Bus zu verlassen. Schnell ist der Bus in der dunklen Nacht verschwunden. Wir stehen mitten in der Wüste, weit und breit ist außer öden Felsen nichts zu sehen und fragen uns, wie wir jetzt hier wegkommen sollen oder ob das eine perfide Falle ist.

Wir warten ohne zu wissen, worauf. Nach einer knappen halben Stunde, der Morgen dämmert bereits, ein Pick-Up. Der Fahrer bedeutet uns, hinten aufzusteigen. „Dahab“, sagt er, und wir haben ohnehin keine Wahl, denn sonst würden wir hier schlicht verrecken.

Die Wüste des Sinai

Wüstenlandschaft auf dem Sinai

Wir fahren durch die karge Wüste und ich bin hin- und hergerissen, ob ich die Landschaft trostlos oder fantastisch finde. Tatsächlich bringt uns der Pick-Up bis nach Dahab, und ich frage mich heute noch, wie diese perfekte Organisation mit so genauem Timing damals ohne Handys möglich war.

An den ersten Anblick von Dahab, wie es damals ausgesehen hat, noch bevor die befestigten Straßen, die Hotelanlagen und die Touristenshops kamen, kann ich mich noch genau erinnern:
Eine kleine Siedlung im Morgenlicht, weißgetünchte Hütten auf der linken Seite, rechts das Meer, dazwischen ein Sandweg, am Strand ein paar Teppiche, Bambusstöcke, über die ein paar Tücher gegen die Sonne gelegt wurden, Sitzkissen – ein Hippieparadies.

Dahab in Ägypten

Dahab: Damals noch unbefestigt, voller Sand und einfachen Hütten – ein Backpackerparadies

Die Stimmung ist chillig und voller Backpacker, viele Israelis kommen hierher, ich bin entweder zu jung oder zu treu, um mich auszutoben, aber genieße die Ruhe und das Nichtstun nach der aufregenden Zeit. In den „Cafés“, die meistens nur aus ein paar Teppichen bestehen, wird von Ghettoblastern Musik gespielt, in meinem Lieblingscafé spielen sie den ganzen Tag The Eagles. Das Meer ist irre salzig und die Sonne zu heiß, um viel zu unternehmen.

Dahab in Ägypten

Einfach und traumhaft.

Wir machen immerhin zwei Touren. Die eine Tour führt uns mitten in der Nacht auf den Mosesberg, von dem ich das erste Mal die Milchstraße mit bloßem Auge erkennen kann. Anschließend empfangen wir den Sonnenaufgang und hören den betenden und laut singenden Menschen um uns herum zu.

Sonnenaufgang auf dem Mosesberg

Andächtig sitzen und dem Sonnenaufgang über dem heiligen Berg zugucken

Sonnenaufgang auf dem Mosesberg

Im Morgenlicht steigen wir vom Mosesberg wieder herunter

Auf dem Rückweg sehen wir das Katharinenkloster, das älteste bewohnte Kloster des Christentums. Der Legende nach soll sich an dieser Stelle Gott mit Moses unterhalten haben und man sagt, der Prophet Mohammed sei im Kloster zu Besuch gewesen.

Katharinenkloster auf dem Sinai in Ägypten

Das Katharinenkloster auf dem Sinai, der Ägyptischen Halbinsel, ist das Älteste bewohnte Kloster des Christentums

Unsere zweite Tour führt zum Blue Hole, dem berühmten Tauchspot, an dem damals nur wenige kleine selbstgezimmerte Holzhütten stehen, an denen wir uns Schnorchelausrüstung leihen können.

Blue Hole, Sinai

Der berühmte Tauchspot „Blue Hole“ auf der Ägyptischen Halbinsel bestand damals aus wenigen Hütten

Der Anblick, den meine Schwester und ich haben, als wir das erste Mal den Kopf ins Wasser stecken und die viele bunten Korallen und Fische um uns herum sehen, lässt uns erschreckt den Kopf aus dem Wasser heben und uns anstarren. Ist das alles wirklich echt?

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Das alles war echt. Und intensiv. Und es war erstaunlich friedlich, auch wenn ich ab und an gedacht habe, dass mir jemand an den Karren fahren will.
Es ist die Zeit noch lange vor dem 11. September und auch vor den ersten Anschlägen am Ägyptischen Museum. Es ist eine Zwischen-Zeit, die Mitten-90er Jahre waren wohl so friedlich wie kaum andere. Der kalte Krieg ist vorbei, die Golfkriege zeigen noch nicht die hässlichen Fratzen ihrer Hinterlassenschaft, die Apartheid ist offiziell beendet, sogar in Nahost ist es ruhig.
Die Kriege der Welt sind ein wenig stiller, es ist die Zeit meines Aufbruchs in eine Welt, in der ich mich selber zurecht finden muss und merke, dass ich es kann und fremd und toll finde.

Was ich damals gelernt habe:
Meine Intuition ist für den Po, meine Menschenkenntnis auch.
Die meisten Menschen sind sehr freundlich und haben nur Gutes im Sinn.
Wir in Deutschland Geborene sind Kinder des Glücks, andere haben nicht so viel davon.
Geschwister werden sich ähnlicher, wenn sie viel Zeit miteinander verbringen.
Meine Schwester ist entweder naiver als ich oder hat die bessere Menschenkenntnis.
Ich überlebe, auch wenn mein Magen 10 Tage lang kaum etwas bei sich behalten will.
Humor macht angstfreier.
Die Wüste ist faszinierend.
Die Welt ist wahnsinnig aufregend. Und wunderschön. Beizeiten hässlich. Aber immer eine Entdeckung wert.

Ich hatte damals kein Gespür für gute Reisefotografie, ich hatte gar kein Gespür für Reiseerzählung, denn es ging nicht darum, die Reise zu rezitieren oder Bilder zu zeigen. Es ging darum, die Reise zu erleben, und ich hatte eine fantastisch aufregende Zeit.

So erinnere ich mich daran. Aber die Wirklichkeit, die war vermutlich ganz anders.

Kamel in der Wüste

Meine Ägypten-Reise in analog ist Teil der Zeitreise-Aktion #TZR600 von Teilzeitreisender.de.
Mit einem Herzensdankeschön an meine große Schwester, die mir die beste Reisebegleitung für meine erste „große Reise ohne Aufpasser“ war und gezeigt hat, dass ich mich lockerer machen sollte, was mir heute noch nicht immer gelingt. We had a hell of a time.