Ich besuchte eine Farm in Kasachstan, unweit des Tian Shan-Gebirges.
Lesehinweis: Dieser Artikel ist kein romantisches Tagebuch und enthält ggf. verstörende Sequenzen für zartbesaitete Gemüter.
Meine Idee, auf einer Kamelfarm in Kasachstan einige Tage zu wohnen, war vermutlich die beknackteste Idee meines bisherigen Lebens. Einmal festgesetzt ließ sie sich jedoch nicht mehr aus meinem sturen Kopf entfernen.
Die Vorbereitung
Die Prognosen standen schlecht: Kasachstan ist sehr teuer zu bereisen, man braucht einen persönlichen Guide (jedenfalls ist das als alleinreisende Frau und ohne Russischkenntnisse sehr ratsam), mein Mitreisender sagte zwei Wochen vor der Reise ab, ich hatte das falsche Reisedatum im Kopf, so dass mein Guide einmal überflüssigerweise die 300 km zum Flughafen gefahren war, was ich natürlich bezahlen musste, und überhaupt eine Kamelfarm ausfindig zu machen, die mich ein paar Tage aufnahm, stellte sich als äußerst schwieriges Unterfangen heraus.
Ich fuhr dennoch, und was sagt man über schlimme Vorahnungen? Sie treten ein.
Mein Guide, der Sowjet
Nachdem ich eine grandios skurrile Einreiseprozedur in dieses nicht zu greifende, geschichtlich irritierende und riesige Land hinter mich gebracht habe, muss ich feststellen, dass mein sich in die Sowjet-Zeit zurücksehnender Guide – er faselt ständig von der „gelben Bedrohung“, hasst Usbeken und Kasachen (er selbst hat einen Kasachischen Pass, ist aber „Russe“) und liebt „die Deutschen“ (ich frage sicherheitshalber nicht nach, WELCHE Deutschen) – sich nicht wie behauptet um eine Kamelfarm gekümmert hat. Stattdessen hält er auf dem Rückweg vom Khoja Achmed Yasawi Mausoleum bei der erstbesten Kamelfarm an und fragt, ob ich bleiben dürfe, oder genauer, sein Taxifahrer fragt, denn der spricht Usbekisch wie die Kamelfarmbewohner, die wiederum weder Russisch noch Kasachisch sprechen. Dass die Farm eine Dromedar Farm ist, obwohl ich eine Trampeltier Farm hatte besuchen wollen, interessiert ihn nicht besonders, und ich bin mittlerweile zu müde, um mit diesem starrköpfigen Halsabschneider zu diskutieren. Hauptsache weg.
Kulturschock, oder?
Wir verabreden, wann der Taxifahrer mich abholen soll: In drei Tagen am Mittag. Es gibt kein fließend Wasser, dafür aber Strom, Internet natürlich nicht. Für den Notfall eine Handynummer. Es werden drei sehr lange Tage.
„Kamelmilch macht dicke Brüste“, bedeutet mir Ruslam
Masura und Ruslam leben mit ihrem fünfjährigen Sohn auf der Kamel-Farm, die nicht ihnen gehört sondern einem reichen Kasachen. Sie haben die Kamelmütter zweimal am Tag zu melken, jeden Morgen kommt der Kasache und holt die Milch ab, die sehr wertvoll ist.
„Macht dicke Brüste“, bedeutet Ruslam mir mit einer eindeutigen Handbewegung, und sie sei extrem gesund. Sie selbst gönnen sich jeden Abend ein kleines Glas, was der Chef nicht wissen darf.
Sowieso sind die beiden Redekünstler per Gestik, und obwohl wir uns mit keinem gesprochenen Wort verständigen können, erzählen sie mir, dass der Hof vor einiger Zeit abgebrannt ist. Die Gebäude sind gerade im Rohbau wieder aufgebaut.
Die Wut im Alltag
Ich hätte das nicht gemerkt, es hätte gut sein können, dass es hier immer so aussah, denn ich sehe sie nicht am Hof arbeiten: Ruslam begleitet am Vormittag die Kamele auf die Steppe und kommt am Nachmittag mit ihnen zurück; stundenlang sitzt er dort auf seinem Pferd und hört Musik von seinem MP3-Player.
Masura hockt derweil im Haus und guckt fern. Der Kleine spielt im Müll auf dem Hof und weicht mir nicht von der Seite, sobald er mich sieht. Er möchte, dass ich Fotos von ihm mache, ununterbrochen drapiert er sich ins Bild und versucht, möglichst „männlich“ zu gucken: Sein Haus, sein Hof, seine Kamele, seine Ziegen!
Sein Hund, den er gerne mit voller Wucht tritt und der nicht weglaufen kann, weil er angeleint ist. Das kleine Ziegenkalb, was nicht von alleine geschafft hat zu trinken und nun mitten im Hof herumsteht und den ganzen Tag jämmerlich schreit – ein gutes Opfer.
Er lacht, als Ruslam es irgendwann am Ohr anhebt und das Kalb sich vor Schmerzen windet, aber aus lauter Schwäche kaum mehr einen Ton von sich geben kann. Ruslam lacht auch, schaut mich an und fährt sich mit dem Finger von links nach rechts über die Kehle: Dieses Kalb ist sowieso schon bald tot. zwei Tage lang begleitet mich das leise, hohe, erstickte Blöken. Als das Kalb am dritten Tag im Hof auf der Erde liegt, traue ich mich nicht nachzuschauen, ob es noch lebt, weil ich mich dafür hasse, ihm nicht den Gnadenstoß geben zu können. Das ist es also, das Gefühl kurz vor dem Schweigen der Lämmer.
Das Gebrüll der Kamele
Am ersten Nachmittag möchte ich das Melken mitfilmen. Masura und Ruslam gehen in das Gehege und knöpfen sich die beiden Anführerweibchen der Truppe vor, die Lieblingsdamen des Chefs, die ich bereits bewundert habe, weil sie einen stolzen und wilden Blick haben. Nach drei Minuten weiß ich warum.
Alles geht blitzschnell, Ruslam zieht mit voller Kraft am Halsstrick und bindet diesen eng an einen Pfahl, beide schreien auf die Kamele ein und versuchen wohl, irgendwelche Kommandos zu geben. Ich verstehe die Kommandosprache genauso wenig wie offensichtlich die Kamele, die ängstlich versuchen zu entkommen.
Als das angebundene Kamel schreit, fängt Ruslam an loszupeitschen, Masura schlägt auf den hinteren Teil des Kamels ein. Ich traue meinen Augen nicht. Nach zwei Minuten die ersten Blutstropfen, Striemen am Hals, das verzweifelte Gebrüll der Kameldame.
Ich weiß, ich sollte das hier filmen. Ich denke, es wäre sicher gut, das hier zu dokumentieren, aber ich kann nicht. Meine Augen werden nass und ich denke, ich muss kotzen. Ich kann einfach nicht.
Also gehe ich zum Gehege der Männchen und tue so, als hätte ich hier etwas wahnsinnig Spannendes entdeckt. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass ich mir hier keine Blöße geben darf.
Das Gebrüll der Kamele kann ich immer noch hören.
Angst hat viele Gesichter
Ich fühle mich wahnsinnig schwach.
Mein Zimmer ist nicht abschließbar, ein Freund der Familie mit ausgeprägtem Alkoholproblem kommt ab und zu vorbei und bleibt heute die Nacht über im Wohnzimmer. Die Witze eindeutig anrüchig und auf mich gemünzt. Ich muss Stärke ausstrahlen. Schwache Frauen hat die Welt noch nie gut behandelt.
Er müsse das tun, sagt Ruslam später zur Kamelmisshandlung, sie seien so störrisch und würden nicht das tun, was er wolle. Er müsse Stärke zeigen.
Die beiden können zwar unglaublich gut mit mir kommunizieren, indem sie Hände, Füße und Kopf benutzen, sind aber anscheinend nicht in der Lage zu verstehen, dass Kamele nicht ihre Sprache sprechen. Sie haben Mitleid mit Tieren entweder nie gelernt oder verlernt, wer weiß schon, ob das überhaupt im Naturell des Menschen liegt oder nicht anerzogen ist. Ich habe zwei Menschen gesehen, die ihre geballte Lebenswut an der Peitsche auslassen. Ich habe tatsächlich noch nie live eine so rohe Gewalt gesehen und mich beschleicht das Gefühl, dass Ruslam hier eine Art Ersatzbefriedigung findet. Wenn er die Kamele melkt, sieht es aus, als hole er sich einen runter und es ekelt mich unglaublich. Habe nur ich diese Assoziation?
Was mir ebenfalls schleierhaft ist, ist der Dreck überall. Warum sie so vermummt in die Gehege gehen, frage ich. Weil der viele Kamelkot krank macht, antwortet mir Masura. Das weiß sie also. Das Gehege steht vor Dreck, die Kamele müssen in ihrem eigenen Kot schlafen. Wenn die Kamele krank werden, müsste das doch auch sie betreffen? Auch im Hof wird nichts saubergemacht. Nach dem Essen wird der Müll direkt aus dem Fenster in den Hof gekippt, wo der Kleine spielt, auch Kamelkot liegt hier herum, denn die kleinen Kamele dürfen sich frei bewegen. Mein Versuch, mit ihnen darüber zu reden, scheitert an der Sprachbarriere, oder sie wollen es nicht besser wissen.
Meine Fragezeichen im Kopf werden größer.
Mein Versuche, die schlimmsten Ecken zu fotografieren, scheitert an Masura, die mir das eindeutig verbietet. Ich schaffe es nicht, mich über das Verbot hinwegzusetzen. Als Dokumentaristin versage ich auf voller Linie.
Am zweiten Abend sind weitere drei Gäste da. Offensichtlich hat sich die Neuigkeit meiner Anwesenheit herumgesprochen und alle wollen die Deutsche sehen. Es sind Männer, es wird viel getrunken, die Gesten werden immer direkter und anzüglicher. Ich verabschiede mich früh in mein Zimmer und lege meine Bücher vor die Tür, an der nicht einmal eine Klinke ist, damit ich hoffentlich mitbekomme, wenn sie aufgestoßen wird. In dieser Nacht schlafe ich nur wenig.
Sprachbarrieren
Am nächsten Morgen kommt der Kasache früher als sonst, um mich auszufragen, was ich hier mache. Es wird deutlich, dass ihn niemand um Erlaubnis gebeten hat, was mich nun in eine blöde Lage bringt. Er kann sehr wenige Worte in Englisch, die Unterhaltung ist fast sinnlos, denn er versteht meine Gesten ebenso wenig wie die von Ruslam oder Masura. Ob er Geld wollte, weiß ich nicht, eventuell hat mich die Sprachbarriere vor einer sehr teuren Unterhaltung bewahrt, jedenfalls zuckelt er irgendwann unzufrieden von dannen.
Steppenspaziergang mit Kamelen
Leider hat er mich so lange aufgehalten, dass die Kamele mit Ruslam längst davongegangen sind, ich mache mich also auf die Suche.
Dankenswerterweise führt am Hof die Stromtrasse vorbei, an der ich mich orientieren kann, denn in der leicht hügeligen Steppe, in der man nordwärts immer nur bis ein paar hundert Meter weit schauen kann, kann man leicht die Orientierung verlieren.
Nach etwa zwei Stunden finde ich Ruslam und die Kamele. Er lässt mich in Ruhe fotografieren, wofür ich sehr dankbar bin, ich habe keine Lust, mich zu unterhalten und bin ihm gegenüber ühnehin möglichst vorsichtig. Auf der Steppe sehen die Kamele aus wie Dinosaurier, wären die Strommasten nicht, könnte ich nicht sagen, in welchem Jahrtausend ich mich gerade befinde.
Ich breche vorzeitig auf, um den Rückweg alleine gehen zu können. Ob meine Angst, mit Ruslam hier in der Steppe alleine zusammen zu sein, berechtigt ist, kann ich überhaupt nicht einschätzen, und das ist wohl, was mir noch mehr Angst bereitet. Normalerweise verlasse ich mich auf meine Intuition, hier aber empfinde ich ständige Bedrohung und kann nicht sagen, ob ich auf meine Gefühle hören oder mir eher sagen sollte, dass ich unter einem Kulturschock mit klischeeverklebten und fremdenängstlichen Gedanken leide. Auch im Rückblick ist mir das nicht klar.
Den Rest der Zeit versuche ich, mir die schönen Seiten abzugewinnen. Ich lasse mich von den Kameljungen beknabbern und beobachte die Tiere, die ich wahnsinnig faszinierend finde.
Weg von hier
Dass der Taxifahrer am Abfahrtstag drei Stunden früher kommt als geplant, ich deshalb in Windeseile packen muss und nicht bemerkte, dass Masura mir meine Merinowolljacke entwendet, kann ich später nicht wirklich bedauern. Ich habe ihnen höchstwahrscheinlich unangemessen wenig Geld als Dank dagelassen, außerdem haben sie sich wirklich Mühe gegeben. Die Gespäche im Wohnzimmer waren interessant und sie waren wirklich nett zu mir, und wäre es nicht so kurze Zeit gewesen, hätte ich vielleicht besser verstanden, warum sie so viel Wut gegen diese Tiere hatten. Ich kann nur ahnen warum.
Als ich im Taxi sitze, werde ich von Gefühlen durchschüttelt und weiß nicht genau, ob ich lachen oder heulen soll. Masura hat mir erst am Morgen bedeutet, dass sie in zwei Monaten genug Geld zusammen haben, um zurück in ihr geliebtes Usbekistan zu gehen, fort von der verhassten Farm.
Erleichterung. Das ist das Gefühl, an das ich mich am meisten im Taxi erinnere. Totale Erleichterung.
Eine schöne Seite Kasachstans habe ich im wundervollen Khoja Ahmed Yasawi Mausoleum gefunden: 1001 Nacht in Kasachstan – das Khoja Ahmed Yasawi Mausoleum |
Seit 15 Jahren ist Inka Redakteurin, Reisebloggerin und Autorin in Berlin und Brandenburg. Sie hat mehrere Reiseführer über die Region geschrieben und veröffentlicht ihre Tipps und Geschichten im Spiegel, Tagesspiegel und verschiedenen Magazinen. Außerdem Möchtegernentdeckerin, Liebhaberin der polaren Gebiete unserer Erde und abschweifend in der Welt. Hier Chefin vom Dienst.