Christiania is the losers’ Paradise for the creative and recreational values which we all look for.
Susanne Jacobi, aus: Christiania Guide
Ursprünglich hatte dieser Artikel aus 2014 den Untertitel: „Keine Macht für niemand: Ein Besuch mit gemischten Gefühlen in der Hippie-Freistadt Christiania in Kopenhagen.“ Den sehr negativen Eindruck konnte ich im Sommer 2022 korrigieren. Ich lasse unten beide Erfahrungen nebeneinander stehen.
Wie Christiania zur Freistadt wurde
Als im September 1971 protestierende Gruppen die Zäune zu leerstehenden Gebäuden des Militärs auf der Stadtinsel Christianshavn niederrissen, war noch nicht abzusehen, dass aus dem Protest eine ganze Bewegung werden würde, die bis heute andauert und von der dänischen Regierung als „autonome Kommune“ geduldet wird.
Schon nach einem Monat wurde Christiania in Kopenhagen als Freistadt vom Journalisten Jacob Ludvigsen ausgerufen. Eine neue Gesellschaft war das Ziel und die Hoffnung, und der basisdemokratische Gedanke passte in die Zeit der Alternativen und ebenso zum Dänischen Volk. Das tut es im Grunde bis heute: Auch wenn die letzte Regierung dafür sorgte, dass ein „Normalisierungsprozess“ in Gang gebracht wurde, passt Christiania als alternative Lebensweise zum Marketingkonzept der Stadt, die als „menschlich“ und „weniger förmlich“ wahrgenommen werden soll. Christiania ist heute eine der größten Touristenattraktionen der Stadt.
Finanzierung durch die Volksaktie
2011 brachten die Christianiter mit einer Volksaktie genug Geld für das Grundstück zusammen, um von der Regierung eine weitere Duldung zu erreichen. Regulär wird eine Miete für Strom, Wasser und die Müllabfuhr gezahlt. Mietverträge gibt es jedoch in Christiania nicht, wer bleiben möchte, muss die Zustimmung des Basisdemokratischen Rates der ca. 1000 Einwohner erhalten, und die ist in der Regel gegeben, wenn sich ein Christianiter für denjenigen ausspricht. Besetzte Wohnungen dürften wiederbesetzt werden, wenn sie nicht bewohnt sind. So einfach ist das.
Besuch in Christiania, Kopenhagen
Bei meiner ersten Recherche vor einigen Jahren lese ich auf der Seite von Visitcopenhagen: „Die Polizei geht davon aus, dass die Gegend um die Pusher Street von organisierten kriminellen Banden kontrolliert wird. Die Bewohner haben deshalb selbst Sicherheitsregeln aufgestellt, und sie raten den Besuchern, diese auf jeden Fall einzuhalten.“ Puh. In meine Vorstellung von weißhaarigen, mit wallenden Kleidern und Blumenkränzen geschmückten Frauen, die auf den Wiesen tanzen, schieben sich Grüppchen von dreckigen und mies dreinschauenden Aggro-Typen. Und ich sollte gar nicht so falsch liegen.
Es ist Sonntag Mittag im Mai 2014, ich erwarte relativ viele Touristen und dänische Ausflügler, aber dem ist nicht so. Als eine der wenigen gehe ich durch ein Tor schräg gegenüber der Erlöserkirche und werde sofort argwöhnisch angeschaut, denn ich habe meine dicke Kamera noch um den Hals.
Noch, denn in der Pusher Street, der Straße, in der die (weichen) Drogen verkauft werden, darf nicht fotografiert werden, was ich schon vorher wusste, dennoch hält mich sofort eine Christianitin an und erklärt mir, dass ich ab der Pusher Street auf keinen Fall fotografieren soll. Mir wird ein bisschen ungemütlich.
Einige laufen gleich vermummt umher – na das macht doch gleich eine superfriedliche Stimmung.
Sehr schnell ist klar, dass hier eigentlich überhaupt nicht fotografiert werden soll: Die Dealer, die ziemlich einfach auszumachen sind, und deren Kunden bleiben nicht in der Pusher Street, sie laufen überall herum, gehen Mittagessen oder entspannen sich beim Kiffen irgendwo auf dem Gelände und wollen natürlich auch dort nicht abgelichtet werden. Einige laufen deshalb gleich vermummt umher – na das macht doch gleich eine superfriedliche Stimmung.
Mein Smartphone nehme ich dennoch in die Hand und fotografiere hier und da unauffällig, wenn ich das Gefühl habe, dass gerade niemand außer ein paar Touristen hinschaut. Hinterher bin ich froh, den SPON-Artikel nicht vorher gelesen zu haben, ich hätte mich vermutlich gar nicht getraut, auch nur ein einziges Foto zu machen.
An den Ständen mit typischem Ethno-Tourikram und Reggae-Musik gehe ich vorbei und lande auf einem Platz mit einigen Imbissbuden. Bis auf die wenigen Touristen sehen die meisten Leute hier ziemlich dreckig und fertig aus und gucken mich aus rotgeränderten, glasigen Augen an. Fast komme ich mir vor wie in einem billigen Film, so klischeehaft treffen hier alle meine vorurteilsbeladenen Gedankenbilder zu. Von den Öko-Späthippies, wie ich sie aus meinem Friedenauer Kiez in Berlin kenne und hier erwartet hatte, sehe ich niemanden. Und auch die blumenbekränzten Leute haben sich vermutlich in ihre Hütten zurückgezogen. Oder?
Die Pusher Street lasse ich schnell hinter mir, die Stände und mit Tüchern abgeschottete Buden muss ich genauso wenig begutachten, wie ich von den grüppchenweise herumstehenden Dealern und deren Kunden taxiert werden möchte. Nach einem Rundgang, der alles andere als entspannend ist, weil ich die ganze Zeit das Gefühl habe, argwöhnisch begutachtet zu werden, verziehe ich mich schnell.
Im Jahr 2022 ist das anders. Eigentlich hatte ich nicht viel Lust gehabt, doch wir sind mit dem mittlerweile im Teenageralter angekommenen Nachwuchs unterwegs und wollen ihm ein bisschen Szene zeigen, außerdem möchte ich mein altes Bild korrigieren, denn nicht nur haben auf diesen Artikel viele Menschen reagiert, die meinten, ich hätte einen sehr schlechten Tag erwischt, zudem gab es nicht nur zwischen Christiania und Kopenhagen, sondern auch unter den Bewohner:innen Christianias viele Diskussionen und Entwicklungen. Die härteren Drogen sollen weniger geworden sein – und das wirkt dann auch an diesem Sommerwochenende so.
Fotografieren scheint, mit Ausnahme der Pusher Street, überhaupt kein Problem mehr zu sein. Vielleicht hat auch das exzessive Fotografieren mit dem Smartphone und das Zur-Schau-Stellen in Social Medias wie Instagram dazu beigetragen, dass die Bewohner:innen es einfach aufgegeben haben. Sicher, es dürfte nicht sehr angenehm sein, wenn das eigene Haus in einer Touristenzone steht und ständig fotografiert wird – da gibt man vielleicht auf.
Trotz dieser Gedanken gefällt mir der Besuch sehr viel besser. Menschen lachen, sitzen herum, die Stimmung ist freundlich bis gelöst. Ich sehe keine Drogenkomatöse mehr auf Wiesen liegen und es gibt viele Imbissbuden. Am schönsten ist, wie auch letztes Mal, die unglaublich tolle, kreative Architektur.
Kreatives Christiania
Es geht vorbei an vielen bunten und kreativ gestalteten Häusern, wo mein Herz aufgeht. Als Inspirationsquelle könnte ich hier einen ganzen Katalog von Bildern machen, versuche allerdings auch beim zweiten Mal, hier etwas Respekt zu zollen, schließlich wohnen die Menschen hier. Beschreiben kann ich das Ganze kaum, ob gestaltetes Steinhaus, Wintergarten aus alten Fenstern oder schräge und runde Holzhäuser. Ich lasse lieber die Fotos sprechen.
Viele Shops verkaufen Kunsthandwerk und Allerleikram – ein Traum an Kreativität und Hippiecharme!
Das Kanalufer ist im Vergleich zu meinem früheren Besuch kaum wiederzuerkennen. Hier lesen, schwatzen und joggen Leute, es ist nicht sehr voll, aber auch nicht menschenleer. Ein schöner Spaziergang im Grünen einmal ums Wasser. Es ist deutlich, dass hier auch Leute aus der Umgebung Kopenhagens einmal mal zum Entspannen herkommen.
Auch beim zweiten Mal traue ich mich allerdings dann doch wieder nur, mit dem Handy zu fotografieren.
Fazit
Christiania ist anders, und das ist natürlich gut so. Meine zwei Eindrücke können natürlich keine grundlegende Erfahrung anbieten, die Kommentare sagen mir, dass man keinen Ärger bekommt, wenn man sich nicht wie ein Trampel benimmt. Also freundlich nur dort und bitte nicht aufdringlich dort fotografieren, wo kein Verbotsschild dransteht. Und am besten Hände weg von den Drogen, die machen leider dumm und eklig.
TTT – TierischeTouriTipps
Hinkommen:
- Zu Fuß ca. 25 Minuten vom Nyhavn bis zum Eingang Christianias, der schräg gegenüber der „Vor Frelsers Kirke“ (Erlöserkirche) auf der Prinsessegade in Christianshavn liegt.
- Nächstgelegene Bushaltestelle: Skt. Annæ Gade, Bus 9a
Infos:
- Wegvorschlag auf Google Maps
- Auf keinen Fall in der Pusher Street, der Drogenverkaufsstraße fotografieren! Legal wird natürlich nur Marihuana verkauft, harte Drogen sind verboten.
- Am Eingang gibt es das Café Info und Läden mit Kunsthandwerk. Anschließend geht’s durch die Pusher Street. Der Kunsthandwerk-Laden „Kvindesmedien“ ist einen Besuch wert. Hier biegt man nach links und kommt zum Café „Månefiskeren“. Wieder nach links kommt man in die Langgade, in der sich das vegetarische Restaurant „Morgenstedet“ befindet (geöffnet Dienstags bis Sonntags ab 12 Uhr). Bei der buddhistischen Stupa geht es dann nach rechts bis zum Ufer und zur Brücke. Hinter der Brücke nach rechts am Wasser hat man eine schöne Aussicht, interessante Häuser und kommt zur Torvegade, wo die Buslinie 2A zurück zum Hauptbahnhof und zum Rathausplatz fährt.
- christiania.org, auf Englisch
- Es werden Führungen angeboten, was ganz sicher super interessant ist, sowohl zur Geschichte wie zu aktuellen Diskussionen und zur Architektur.
Literatur:
- Zeit.de: Utopia in bester Lage
- Spiegel-online: Freistadt Christiania: „Auf eigene Gefahr“
Seit 15 Jahren ist Inka Redakteurin, Reisebloggerin und Autorin in Berlin und Brandenburg. Sie hat mehrere Reiseführer über die Region geschrieben und veröffentlicht ihre Tipps und Geschichten im Spiegel, Tagesspiegel und verschiedenen Magazinen. Außerdem Möchtegernentdeckerin, Liebhaberin der polaren Gebiete unserer Erde und abschweifend in der Welt. Hier Chefin vom Dienst.