Ende 2019 hatte ich ein Couch-Jahr angekündigt, ein Jahr, in dem ich mal wieder freie Wochenenden haben und sowas wie Entspannung und sogar Langeweile empfinden wollte, denn Letztere soll laut aktueller Forschung die Kreativität anregen. Nach drei Büchern, Blog, Hauptjob und durchgängig arbeiten war ich damals ausgepowert und hatte ein bisschen meine Mitte verloren. Die Pause kam dann Anfang 2020 für uns alle – aber das ist eine andere Geschichte. Und ja, natürlich weiß ich, dass das für viele von Euch keine Pause im Sinne von Langeweile war, ganz im Gegenteil mussten viele doppelt so viel Arbeit erledigen.
So viel gelesen und gedacht, wie ich mir das vorgenommen hatte, habe ich dann nicht – oder vielleicht doch, aber ganz sicher über andere Dinge als die, die ich mir vorgenommen hatte – aber seitdem konnte ich doch gut ein paar Gänge runterschalten (auch wenn ich inzwischen schon wieder zwei Bücher geschrieben habe), mich mit verschiedenen Konzepten und interessanten Philosophien auseinander setzen und auch nochmal ein bisschen überlegen, wo ich denn hinwill mit meinem Kopf und meinem Leben. Dabei sind mir immer mal wieder schöne Wörter über den Weg gelaufen und vor ein paar Tagen dachte ich spontan, schreibe ich doch mal einen Artikel über ein paar dieser Begriffe, die ich inzwischen sehr schätze, weil sie entweder ein Teil meiner eigenen kleinen Lebensphilosophie geworden sind, oder ich mich mit ihnen immer wieder gerne befasse. Weil einige von Ihnen auch so etwas wie Glücksformeln sind. Und letztlich: weil sie so schön klingen.
Für mich sind diese Wörter wie kleine Schatzkisten, die ich öffnen kann, wenn der Tag mal wieder etwas stressig war oder ich ein Bedürfnis nach ohhmmmm habe. Probiert’s mal aus.
Disclaimer: Ich habe mich mit den philosophischen Konzepten hinter diesen Begriffen nur an der Oberfläche beschäftigt und kann hier lediglich einen Überblick geben. Wer möchte, kann dazu jeweils noch ganze Bücher wälzen und tief eintauchen, dazu gebe ich einige Lesetipps*.
Lagom – Die Idee vom „genau richtig sein“
Vom Maß halten sprach schon Seneca in seinem Werk Vom glücklichen Leben vor 2000 Jahren. Ganz ähnlich sehen es die Menschen in Schweden, die davon sprechen, dass etwas „genau richtig“ ist, wenn sie von lagom sprechen. Genau richtig in einem sehr ruhigen, besinnlich gemeinten Sinn, so dass die Dinge im Gleichgewicht sind. Perfektionismus ist für lagom etwas drüber. Auch Menschen, die so toll sind, dass man sich stante pede in sie verliebt. Etwas ist eben gut genug für den Moment, ohne dass man sich dafür totbuckeln musste, denn Work-Life-Balance ist das Ding. Lagom heißt dann eben auch, passend für den Augenblick zu sein. Nicht zuviel und nicht zu wenig. Die Köttbullar sind vielleicht heute lagom, obwohl sie etwas groß geraten sind, weil heute ein besonderer Tag ist – oder weil es Tante Mathilda eben gerne so mag.
Lagom ist einerseits sehr persönlich und andererseits die gesellschaftliche Einigkeit, dass „höher, schneller, weiter“ kein erfülltes Leben bringt, und genau darum geht es dem angeblich (zweit)glücklichsten Volk der Erde auch bei lagom: um Lebensglück.
Es gibt auch eine umgangssprachliche Nutzung des Begriffs um auszudrücken, dass etwas nicht so toll ist: „Wie war er denn so?“ „Lagom.“ (Naja, geht so, so mittel eben.) Meistens wird der Begriff jedoch wie oben beschrieben genutzt.
Lesetipp: Die glücklichen Schweden wissen: Zum persönlichen Glück hilft eine entsprechende Lebenseinstellung, mehr als äußere Umstände. Autorin Linnea Dunne beleuchtet in ihrem Buch „Lagom“ die genau richtige Balance in verschiedenen Lebenslagen, von einem gemütlichen Zuhause über gesunde Ernährung bis zum Umgang mit seinen Mitmenschen. |
Nagomi – Die Lehre vom harmonischen Leben
Gar nicht so weit entfernt vom schwedischen lagom ist das japanische Nagomi – die Ähnlichkeit der Wörter ist allerdings rein zufällig.
Es ist einigermaßen schwierig, das tief in der japanischen Kultur verankerte Konzept (sehr viele Läden, Produkte und Dienstleistungen in Japan bezeichnen sich mit Nagomi) in kurzen Worten zu beschreiben. Ich würde es knapp als „Seelenfrieden“ übersetzen, als eine innewohnende Gelassenheit, mit den Dingen umzugehen und gleichzeitig die Harmonie in den Dingen trotz aller Dissonanzen zu sehen.
Der Neurowissenschaftler Ken Mogi übersetzt es als „Zustand des menschlichen Bewusstseins, geprägt von einem Gefühl der Leichtigkeit, der emotionalen Ausgeglichenheit, des Wohlbefindens und der Ruhe. Nagomi ist die Idee, dass man praktisch alles miteinander verbinden kann.“
In seinem Buch beschreibt er das Konzept sehr tiefgehend und einen Punkt, den ich persönlich sehr wichtig finde: die Balance der Gegensätze, also das Wissen, dass zum Licht auch Dunkelheit gehört, zum Glück das Unglück, zur Liebe auch der Verlust. Es geht also nicht um ein toxisches Glücksempfinden, sondern im Gegenteil um etwas, das man auch bei lagom findet: um das gute Maß der Dinge, um Resilienz und die Gewissheit, dass auch Unperfektes zur Balance des Lebens dazu gehört, dass das Leben nichts mit Perfektionismus zu tun hat (genau wie lagom). Das ist dann wiederum das Rezept für Lebensfreude.
Wer mehr darüber lesen möchte, kommt am Buch von Mogi kaum vorbei. Die Bücher von ihm kann ich Euch übrigens wirklich sehr ans Herz legen, insbesondere, wenn Ihr an Japan interessiert seid, denn Mogi erklärt neben der Philosophie des Begriffs gleich noch viele Seiten der japanischen Kultur.
Lesetipp: Harmonie und Balance mit dem japanischen Lebenskonzept Nagomi. Der Neurowissenschaftler Ken Mogi geht dem Weg zu einem stressfreien und resilienteren Leben nach, das im Verständnis der Gegensätze Glück und Unglück, Sonne und Regen, Liebe und Verlust, Vergnügen und Arbeit die Harmonie im Sein findet. |
Kama Muta – Das tiefe Gefühl der Rührung
Kama Muta ist kein philosophisches Konzept im eigentlichen Sinn, sondern die Bezeichnung des Gefühls, wenn uns etwas zu Tränen rührt, wenn wir durch Mitgefühl ergriffen sind, zum Beispiel, wenn jemand heiratet, oder wenn wir miterleben, wie ein Kind seine Eltern wiederfindet oder wir süße Hundevideos sehen.
Der Begriff stammt aus dem Sanskrit und bedeutet in etwa „von Liebe bewegt“. Kama Muta ist also mit dem Gefühl der Liebe verwandt, jedoch nicht identisch. Es soll laut Forschungen eine wichtige soziale Komponente haben und das tiefe Gemeinschaftsgefühl stärken. In dem Moment, wo wir also am intensiven Moment von anderen teilnehmen, gehen wir eine soziale Bindung ein, sowohl bei Freunden wie völlig Fremden, häufig gepaart mit dem Bedürfnis, diese Emotionen zu teilen. (Stimmt, ich renne regelmäßig mit Hunde-Reels zum Mann, um sie ihm zu zeigen.) Das kennen wir z.B. auch bei Filmen, bei denen wir vor Rührung heulen. Kama Muta ist allerdings im Gegensatz zur Liebe ein ziemlich flüchtiges Gefühl.
Die Forschung um Kama Muta ist noch sehr jung, daher gibt es heute häufig mehr Fragen dazu als Antworten. Sicher ist, dass wohl alle, die diesen Abschnitt gelesen haben, ganz genau wissen, wovon die Rede ist, denn das Gefühl ist in allen Gesellschaften weltweit vorhanden.
Die Medical Tribune bezeichnete es sogar mal als „stärkstes Gefühl der Welt“, wobei ich da weniger mitgehen kann, ich würde sagen, alle Grundgefühle sind stark, also die so genannten Primäraffekte, bei denen in der Regel Freute, Angst, Wut, Traurigkeit, Überraschung und Ekel genannt werden. Ob Kama Muta zu den Grundgefühlen gehört, ist umstritten.
Bezogen auf die Rührung, die ich z.B. manchmal bei fantastischen Naturansichten verspüre, habe ich mich zuerst gefragt, wo die soziale Komponente hierbei stecken soll, denn das ist für mich häufig die gleiche Rührung wie bei oben genannten Beispielen. Ich vermute, es ist eventuell das Gefühl eines ganzheitlichen Seins mit der Natur, in der alle Menschen verbunden sind. Vielleicht ist das aber auch noch nicht erforscht. Bevor ich jetzt ins Esoterische abgleite, wechseln wir mal fix zum nächsten Begriff.
Ikigai – Vom Finden des eigenen Lebensglücks
Ikigai entstammt wieder dem Japanischen und bedeutet streng übersetzt „Lebenssinn“. Dahinter steckt eine Philosophie und Methode herauszufinden, was das Leben für den Einzelnen lebenswert macht. Es geht darum, sich selbst kennen zu lernen und die eigene Glücksformel zu finden.
Bei Ikigai gibt es vier elementare Bereiche des Lebens: die Leidenschaft („was ich liebe“), die Mission („was die Welt braucht“), die Profession („wofür ich bezahlt werden kann“) und die Berufung („was ich gut kann“). Spannend übrigens, dass hier Leidenschaft und Berufung unterschiedliche Dinge sind, finde ich.
Die Anschauungen und Konzepte dazu sind sehr komplex und kaum in einem kurzen Absatz zu erklären. Die verschiedenen Ansätze heben auch – je nach kultureller Sichtweise – mal mehr die eigene Identität, mal das Gemeinschaftswesen und mal die Mission in den Vordergrund. Alle, die sich mit der Methode befassen, betonen, dass Ikigai etwas sehr Persönliches ist und ein langer, individueller Prozess, an dessen Ende jemand die Frage beantworten kann: Wo findest Du (Dein) Ikigai?
Mich hat das sofort angesprochen, denn es gibt verschiedene Säulen, die zum Finden des Ikigai wichtig sind. Eine davon ist, im Hier und Jetzt zu leben, eine andere, die Freude in kleinen Dingen zu finden. Um Ersteres bemühe ich mich täglich, Letzteres wurde mir anscheinend in die Wiege gelegt, wofür ich extrem dankbar bin. Beim Ikigai kann ich jetzt ein bisschen konzeptuell über diese Sachen nachdenken (eher als esoterisch, was mir weniger liegt), was ich großartig finde. Wer das auch tun möchte, dem kann ich dieses relativ schmale Buch sehr empfehlen, ich lese es gerade zum zweiten Mal – daher auch die Idee für diesen Artikel.
Lesetipp: Mit dem tiefgreifenden Wissen um die Japanische Kultur erklärt der Neurowissenschaftler Ken Mogi, wie die japanische Philosophie Ikigai mit ihren 5 Säulen hilft zu erkennen, „wofür es sich zu leben lohnt“. Nebenbei erfährt man viel über das japanische Lebensverständnis. |
Shinrin Yoku, Kintsugi, Hanami – Was die japanische Kultur uns von den kleinen Dingen lehrt
Es ist kein Wunder, dass die Mehrheit der Wörter in diesem Artikel aus dem Japanischen kommt. Die Kultur in Japan mag aus meiner westlichen Klischee-Sicht mehrere schwierige Seiten haben, die patriarchalische Gesellschaft zum Beispiel, oder die ausgeprägte Leistungsgesellschaft, von der sich jedoch immer mehr Menschen in Japan abwenden. Der japanische Lebensumgang hat aber für mich auch etwas sehr Bezauberndes: die sorgsame Langsamkeit, mit der sich Dingen gewidmet wird; vom Gemüseanbau über das Reparieren von Dingen bis zur Sprache. Man könnte es auch mit Achtsamkeit bezeichnen, dieses Wort ist hierzulande aber dermaßen überstrapaziert, dass ich die sorgsame Langsamkeit etwas besser finde.
In Japan widmen sich Menschen der Sache vollständig, die sie gerade erledigen. Multitasking ist tabu. Durch die Sorgsamkeit dauert eventuell alles etwas länger, dafür wird es dann gut. Und so entstanden auch einige sehr spezielle Worte für komplexe Handlungen und mit einem ganzen lebensphilosophischen Konzept dahinter.
Lesetipp: Japan durfte ich bisher leider nur auf einer relativ kurzen Reise nach Hokkaido kennen lernen. Es hat mich so nachhaltig beeindruckt, dass ich unbedingt noch einmal hinreisen möchte. |
Viele kennen sicher Kintsugi, die japanische Methode, Keramik zu reparieren und die Bruchstellen, statt sie zu verdecken, mit Gold extra hervorzuheben. Darin schwingt natürlich eine Menge Nagomi. Die Technik ist eine Kunstform und möchte der Geschichte der Dinge zollen, sie verschönern, aber nicht so tun, als sei der Bruch nicht passiert, Makel hervorheben und sie damit wertschätzen in ihrer Einzigartigkeit. Sehr großartig, finde ich.
Auch Shinrin yoku, das Waldbaden, ist hierzulande inzwischen sehr bekannt. Während wir darunter aber häufig immer noch den Spaziergang mit Freunden quatschenderweise meinen, versteht Shinrin yoku den sehr bewussten Gang in den Wald, am besten alleine und still. Waldbaden hat übrigens nicht nur psychische Komponenten, sondern tatsächlich physiologische. Die ausgestoßenen sogenannten Phytonzide, biogene Wirkstoffe, mit denen sich Pflanzen vor Pilzen, Bakterien und Insekten schützen, kurbeln nach neuesten Forschungen auch unser Immunsystem und natürliche Killerzellen in unserem Blut an, die z.B. vor Krebs schützen. Das Stresshormon Cortisol wird verringert. Interessant wäre, ob dazu auch ein lockerlustiger Spaziergang mit Freund:innen ausreicht, oder ob dazu das bewusste Waldbaden nötig ist. Da bisher leider hauptsächlich in Japan dazu geforscht wird, gibt es hier keine eindeutigen Aussagen.
Die Sakura, die Japanische Kirschblüte, kennt Ihr sicher ebenfalls. Vielleicht ist Euch auch Hanami, oder O-Hanami ein Begriff, was das „Betrachten der Kirschblüte“ meint. Der Jahrhunderte alte Brauch, unter den Kirschblüten zu wandeln und sich zu versammeln beinhaltet auch das Nachdenken über die Schönheit des Lebens, aber auch den Aufbruch durch den beginnenden Frühling, die Vergänglichkeit des Lebens und der Perfektion sowie den Tod – die Kirschblüte in voller Pracht dauert meist lediglich zwei Wochen im Jahr.
Man feiert Hanami mit Freunden und picknickt unter den Kirschbäumen. In Berlin kann man das übrigens ebenfalls tun, denn die längste Kirschblütenallee Berlin-Brandenburgs steht mit über 1000 Bäumen am südlichen Mauerweg. Mehr über die Kirschblüte in Berlin findest Du in meinem Artikel.
Lesetipp: Ich liebe Spaziergänge zur Berliner Kirschblüte. In diesem Artikel habe ich meine drei Favoriten beschrieben. |
Ich hoffe, der etwas andere Artikel auf diesem Blog konnte Euch ein bisschen inspirieren, vielleicht zum Nachdenken anregen oder auch zur ein oder anderen Unternehmung verleiten. Ihr wisst ja: Ich bin Fan von Mikroabenteuern, denn die machen nachweislich glücklich.
Ob Eskapaden, Lieblingsplätze oder schönste Radtouren: Meine Favoriten für Berlin und Brandenburg habe ich in fünf verschiedenen Büchern festgehalten. Ob Neuling oder Berlin-Kenner: Stöber gerne mal in meine Tipps abseits der üblichen Pfade rein. → Mit meinen grünen Reiseführern durch Berlin und Brandenburg |
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Seit 15 Jahren ist Inka Redakteurin, Reisebloggerin und Autorin in Berlin und Brandenburg. Sie hat mehrere Reiseführer über die Region geschrieben und veröffentlicht ihre Tipps und Geschichten im Spiegel, Tagesspiegel und verschiedenen Magazinen. Außerdem Möchtegernentdeckerin, Liebhaberin der polaren Gebiete unserer Erde und abschweifend in der Welt. Hier Chefin vom Dienst.