oder auch „Schritt für Schritt zur angstfreien Spinnenbegegnung“.
Auf geht’s in die nächste Vorbereitungsrunde auf die Big Tour, meine große Tour durch Südamerika: Eine Spinnentherapie.
Ich bin Spinnenphobikerin. Vor einiger Zeit las ich, dass es in Chile Vogelspinnen gibt, genauer: die rote Chile-Vogelspinne (ich lasse das Bild für die Phobiker unter uns mal weg, wer sie anschauen möchte, einfach auf den Link klicken).
PANIK!
Einige sagen, Vogelspinnen kämen nicht so häufig vor, bei anderen heißt es, dass sie an der Küste „sehr verbreitet“ seien. Ganz ehrlich: Die Vorstellung, dass ich morgens in meinem Zelt aufwache und den riesigen Schatten so eines Exemplars… also nein, mir wird schon bei dem Gedanken schlecht. Vermutlich würde ich zu meinem Handy greifen, den Mann anrufen und hysterisch herumschluchzen. Und was mich besonders ärgert: Die Viecher sind – entgegen landläufiger Meinung – nicht einmal gefährlich. Sie schießen lediglich bei Gefahr ihre Brennhaare ab, was dann auf der Haut piekst bis ordentlich weh tut, nach einiger Zeit aber vorbeigeht.
Genauer weiß ich das allerdings nicht, und das grundsätzliche Verhalten kenne ich auch nicht. Sind sie angriffslustig? Oder wehren sie sich nur im äußersten Notfall? Kann man allergisch reagieren? Sitzen die eher ruhig rum oder laufen die viel umher? Wenn ich am Zelt rütteln würde, würden sie das Weite suchen oder sich nur auf den Boden daneben setzen? Huah.
Nachdenken über die Angst
Schon lange habe ich überlegt, eine Spinnentherapie zu machen, war aber erstens zu faul mich zu kümmern, und zweitens wird sowas leider nicht von der Krankenkasse übernommen. Also habe ich mich bisher damit begnügt, mich den Viechern möglichst fernzuhalten oder sie bzw. meine beknackte Panik zu ignorieren („Hiiiiiiiiillfeeeeee, kann mal jemand die Spinnnnnnee daaaa wegmaaachen!“) In der Natur kann ich sie allerdings etwas besser ertragen, weil sie da nicht in „meinen Raum“ eingedrungen sind. Wenns aber um mein Zelt geht, da geht es dann schon wieder los…
Was es heißt, wenn der Überlebensinstinkt durch so eine Phobie kurzzeitig ausgeschaltet wird, musste ich auf dem Ligurischen Höhenweg in Italien erfahren. Auf einem extrem schwierigen Wegstück, was steil und durch Regenstürme halb weggebrochen war, machte ich beim Auftauchen eines rechten Prachtexemplars einen solchen Satz, dass ich mich nur noch mühsam an der Grasnarbe festhalten und wieder hinaufhangeln konnte. Ich war alleine. Hätte ich nur eine Millisekunde langsamer reagiert oder wäre einen halben Meter weiter gesprungen – der Ausgang wäre vermutlich fatal gewesen.
Dieses Erlebnis sitzt nachhaltig in meinem Nacken, weil es Ausdruck dafür ist, dass mich in blöden Momenten meine Arachnophobie umbringen kann.
Von solch schwergewichtigen Gedanken einmal abgesehen, ist so eine Phobie auch einfach total blöde und in vielen Situationen urpeinlich. Fremde Leute mit hysterisch-zittriger Stimme zu bitten, aus dem Hotelzimmer das Getier zu entfernen, ist peinlich. Auf der Straße vor der Arbeitsstelle zu warten, bis ein Kollege kommt, dem man dann erklären muss, dass einem der Weberknecht an der Haustür den Eintritt verweigert hat, ist mega-peinlich.
Ich habe tausende solcher Erlebnisse und lange genug versucht, es sportlich zu sehen, dass ich eben nicht perfekt bin und bei so etwas das Weibchen spielen muss, was mir gehörig auf den Zeiger geht („Kannst Du bitte maaaal..?“).
Jetzt ist es soweit: Ich will das nicht mehr.
Erster Schritt der Angst-Therapie
Das „ich will das nicht mehr“ ist immer der erste Schritt zur Veränderung, das kenne ich aus meiner Raucherentwöhnung. Wenn ich das Rauchen sein lassen konnte, dann muss das doch auch irgendwie mit der Spinnenphobie gehen, denke ich.
Das Problem: Jeder weiß, dass sowas nur mit Konfrontation funktioniert. Und wer setzt sich freiwillig dem aus, wovor er die größte Angst hat? Und – noch schlimmer: Wer setzt sich freiwillig der Panik aus?
Die Angst vor der Angst ist normalerweise das größte Problem eines Phobikers. Die Neuprogrammierung (auf angstfrei) kann nur funktionieren, wenn Erfolgserlebnisse verbucht werden. Mein Denkfehler war bisher: Ich dachte, das Erfolgserlebnis sei „Mir ist nichts passiert“. Ich müsste mich also der Angst stellen (Schocktherapie) um dann hinterher rational festzustellen, dass mir nichts passiert sei, und das würde dann eine Umprogrammierung bewerkstelligen. So ist es allerdings nicht bei mir. Hatte ich mit einer Spinne ein Panikerlebnis, war in der nachfolgenden Zeit die Phobie noch wesentlich größer: Mir war zwar physisch nichts geschehen, aber psychisch hatte mich die Angst einmal mehr überwältigt.
Das Erfolgserlebnis besteht daher eher darin, bei einer Begegnung KEINE ANGST zu haben. Eine gute Nachricht für alle Spinnenphobiker also: Schocktherapie muss nicht sein! Es geht auch mit kleinen und stetigen Schritten ganz ohne Angst. Aber Achtung: das hier ist natürlich meine eigene Meinung, die nicht wissenschaftlich fundiert ist! Es gibt genug Psychologen und Psychotherapeuten, die das anders sehen.
Sanfte Konfrontation als Spinnentherapie
Seit einigen Monaten habe ich also angefangen, mir erst ganz bewusst Bilder von Spinnen anzuschauen (für Nichtphobiker: Ja, auch das ist schon schwierig ;). Als tatsächlich ein Gewöhnungseffekt eintrat (ich musste mich nicht mehr sofort anfangen zu schütteln wie ein Hund), habe ich mich an Youtube-Videos herangewagt.
Aber der nächste Schritt musste getan werden, denn so ein Viech live herumlaufen zu sehen, das ist einfach was anderes. Deshalb habe ich vor ein paar Wochen Nägel mit Köpfen gemacht:
Ein bisschen googeln und schon fand ich die Vogelspinnen-AG in Berlin. Meine Mail an das Organisationsmitglied Mike war eine Gratwanderung: Hier spricht Klein-Spinnenphobikerin, die Spinnen „Viecher“ nennt und das ein oder andere Exemplar im Staubsauger hat verschwinden lassen (ich gestehe!). Dort sitzt der Vogelspinnenliebhaber, der mich bitte einladen soll.
Er tat es, was ich ganz furchtbar nett finde, denn eines ist wohl klar: Eine Vogelspinnenliebhaberin werde ich wohl nicht. Ich bin froh, wenn ich durch mehr Wissen und vielleicht mal bisschen gucken einen Teil meiner Angst abbauen kann. Zum nächsten Stammtisch solle ich kommen, vielleicht sei auch das ein oder andere Exemplar dabei.
Zum Stammtisch der Vogelspinnen-AG
Es ist Samstag und endlich soweit: Ich habe mir Gedanken gemacht, Fragen notiert und meine Erwartungshaltung zurückgeschraubt, heute eine lebende Vogelspinne zu sehen, denn wer bringt schon eine Vogelspinne in ein Restaurant? Dachte ich so.
Nachdem ich aus der S-Bahn aussteige, läuft vor mir ein Typ mit weißen Haaren und Tarnhose, und mir fällt die Frage eines Freundes ein, was das wohl für Leute sind, die sich Vogelspinnen halten. Ich frage mich, was der Typ im Rucksack hat. Kann man Vogelspinnen einfach so im Rucksack transportieren? Aber er geht in eine andere Richtung.
Treffpunkt ist ein urig typisch alt-berlinerisches Kneipenrestaurant. Die Runde ist größer als erwartet, etwa ein Dutzend Leute sind da, und irgendwie ist es dann doch so, wie ich mir das vorgestellt hatte: Sehr nett, von jung bis mittleres Alter, immerhin 3 Frauen, keine durchgeknallten oder seltsamen Leute. Ich werde sehr herzlich empfangen, bestelle mir ein Bier und fange gleich an, Fragen zu stellen, bis, ja bis mein Blick auf eine kleine durchsichtige Plastikschachtel fällt, die ziemlich in meiner Nähe steht. Zwischen all dem Zellpapier – eine Vogelspinne!
Jetzt tauchen weitere Plastikschachteln auf. Oh, doch Konfrontationstherapie heute. Hui.
In der ersten Schachtel ist Mikes größeres Exemplar. In den anderen Schachteln sind Kleine zum tauschen oder verschenken. Ich nehme schnell noch einige Schluck Bier. Aber keiner drängt mich, sie lachen ein bisschen, sind es natürlich alle gewöhnt, dass sich Leute vor ihren Spinnen ekeln.
Mike hat sich vorbereitet wie ein guter Psychologe: Er schiebt mir die Häute seiner mitgebrachten Vogelspinne hin. Wenn man die Häute richtig ausrichtet, sieht das fast wie eine echte Spinne aus.
Das ist natürlich eine wahnsinnig gute Idee. Die Leute erzählen mir, dass sie häufiger Anfragen von Therapeuten bekommen, ob sie solche Häute zur Verfügung stellen können. Ich brauche etwa eine halbe Stunde, bis ich so eine größere Haut auf die Hand nehmen kann. Sie ist so leicht, dass man überhaupt nichts von den flauschigen Härchen spürt.
Anhand der Haut wird mir viel gezeigt, Mike und auch alle anderen erklären mir ganz furchtbar viele interessante Dinge. Es tut vor allem gut, in so einer netten Runde zu sitzen, die alle eines gemeinsam haben: KEINE Spinnenphobie. Die Erfahrung, die Bestätigung, dass hier ICH diejenige mit Knall bin, und dass es nicht normal ist, Panik vor ungefährlichen Spinnen zu haben, ist Gold wert. Auch die Ratio muss ja mit Argumenten bedient werden.
Brennhaare haben übrigens nur Spinnen in Lateinamerika, soweit man weiß. Diese werden normalerweise nur im Notfall geschleudert. Die Spinne dürfte sich, wie alle anderen Vogelspinnen, erstmal in Drohstellung begeben. Dabei stellt sie sich auf wie ein – tja – Bär? Jedenfalls stellt sie sich richtig auf und würde zuerst einen Scheinbiss abgeben, wobei sie mit ihren Cheliceren (Zähnen) zuhacken würde. Erst anschließend würde sie beißen (oder die Brennhaare absondern). Die Brennhaare können nur unangenehm werden, wenn sie in die Schleimhaut geraten, sonst sollte das lediglich ein bisschen zwicken.
Das Gift ist nicht so stark, dass es schwerere Folgen für den Menschen haben sollte. Man kann das wohl in der Regel mit einem Wespenstich vergleichen. Allergische Reaktionen können natürlich nie ausgeschlossen werden, jedoch existiert kein einziger Bericht, dass ein Mensch aufgrund eines Vogelspinnenbisses jemals gestorben ist.
Sie sind scheu und dürften in aller Regel das Weite suchen, wird mir erklärt. Ob mehr oder weniger defensiv oder angriffslustig sei Individuensache. Vor allem aber seien die meisten sehr phlegmatisch und würden sich nur zum Fressen bewegen, was sie selten tun. Lediglich die Männchen würden in der Natur herumstreifen, wenn sie auf Brautschau seien.
Ich merke, dass es mir hilft, mehr über das Verhalten zu erfahren, deshalb gibt es von der AG noch eine Buchempfehlung: „Vogelspinnen“ vom GU-Verlag.
Jetzt wird’s ernst
Nachdem ich schon viel gefragt und erfahren habe, fragt mich Mike zwinkernd, ob ich seine Spinne (deren wissenschaftlicher Name mir leider entfallen ist) denn nun mal auf die Hand nehmen möchte.
Öööööööööööööhh – WAAS?
Diese sei sehr phlegmatisch. Er nimmt sie auf die Hand und sie bewegt sich ein bisschen, langsam. Zweimal zuckt sie zusammen, was ich dann auch gleich tue, trotz Sicherheitsabstand. Man solle nur nicht doll atmen, erklärt er mir. Die Tasthärchen seien so wahnsinnig empfindlich, dass gerade bei Luftbewegungen die Tiere einen Fluchtreflex bekämen. „Ja“, bekräftigt die hübsche junge Frau mir gegenüber. Pusten sei sowieso eine gute Idee, wenn man sie loswerden möchte. „Sie laufen stets mit der Luftbewegung“.
Um die Spinne nicht zu sehr zu stressen, packt Mike sie wieder zurück in die Box und macht den Deckel zu. Sie würde selbst in der Plastikbox alles mitbekommen an Schwingungen, Stühle rücken und sogar Stimmen. Eine am anderen Ende des Tisches erzählt, dass eine ihrer Spinnen immer ankommen würde, wenn ein bestimmter Freund anfange zu sprechen. Spinnen haben Stimmenschwingungenvorlieben. Sowas.
Mikes Spinne gebe ich den Namen Berta, nachdem ich erfahren habe, dass Spinnenbesitzer ihren Spinnen keine Namen geben. Dazu ist das Haustier-Besitzer-Verhältnis zu wenig ausgeprägt. Da Vogelspinnen manchmal wochen- bis monatelang nichts fressen, sich später nur noch selten bis gar nicht mehr (Männchen) häuten und teilweise nur im Bau herumsitzen, besitzen fast alle hier am Tisch viele Spinnen. Mike z.B. hat etwa 80! „Sonst passiert zu wenig Interessantes“, wird mir gesagt.
Ich schaue Berta an und sage mir, dass ich jetzt lieber ein kleines Namensverhältnis aufbaue, bevor ich … soll ich wirklich? Wenn Berta blöde zuckt oder wegrennt, ist alles vorbei und mein momentan recht entspanntes Verhältnis ist wieder für die Katz.
Mike macht Bertas Box auf und schiebt sie mir ein Stück rüber. In Ruhe kann ich nun Fotos machen und mir Berta aus der Nähe anschauen. Sie ist kleiner als man das so von Filmen gewöhnt ist, aber natürlich größer als jede andere Spinne, die ich jemand direkt vor meiner Nase gehabt habe. Selbst die Spinnen in Ligurien waren nicht so groß.
Die Härchen sehen wahnsinnig flauschig aus. So fühlen sie sich auch an, wird mir erklärt. Mike berichtet, dass auch er früher nicht gerade spinnenbegeistert war. „Ich habe weggeguckt, als mir jemand das erste Mal eine Vogelspinne auf die Hand setzte. Aber dann habe ich das flauschige Ding gefühlt und wollte sie sofort mitnehmen.“ Seit diesem Tag sammelt er.
Immerhin habe ich nun schon die Haut ganz entspannt auf der Hand gehabt. Wenn die Berta sich auch nicht bewegt…
„Jetzt bin ich soweit.“ sage ich in einem Anfall plötzlichen Übermutes. Niemand, kein Therapeut auf der Welt, kann mir jemals ein wohligeres Gefühl mit Spinnen vermitteln als diese Runde, da bin ich sicher. Das sind keine Therapeuten, die selber mit Spinnen nichts zu tun haben und sich nicht auskennen. Das sind Fans, Liebhaber, Leute, die begeistert sind von den Eigenschaften dieser Tiere. Und die genau um deren Verhalten wissen. Wenn nicht heute und jetzt, dann schaffe ich das nie.
Als Mike die Berta aus der Box nimmt, wird diese plötzlich agil und läuft auf seiner Hand und seinem Arm herum. Ich zögere. Ausgerechnet jetzt legt sie ihr Phlegma ab, na toll.
„Einfach nur die Hand daneben halten.“ sagt Mike. „Aber wenn sie Richtung meiner Schulter läuft“, fange ich an, „nehme ich sie weg, klar“, sagt Mike.
Und dann tue ich es: Ich halte meine Hand neben seine und die Berta läuft über meine Hand.
Sie verharrt kurz und läuft weiter, wieder auf Mikes Arm. Sie fühlt sich ganz leicht und ganz flauschig an. Es ist ein sehr angenehmes Gefühl.
Als ein anderer am Tisch sie nimmt, bekommt Berta plötzlich einen Rennanfall und rast den Arm hoch und über den Rücken. Ehe ich ich richtig gruseln kann, hat Mike sie schon eingefangen und in die Box verfrachtet. „Du hast sie angeatmet“, sagt er. Da hat sie Stress gekriegt.“ Ich bin froh, dass das nicht bei mir passiert ist. Aber, Angst habe ich auch da nicht gespürt. Ein echtes Erfolgserlebnis.
Ich bleibe noch ein bisschen, aber Fragen kann ich keine mehr stellen, dazu bin ich zu aufgedreht. Mit riesengroßer Dankbarkeit für dieses Erlebnis und der Zusage, in Kontakt zu bleiben, fahre ich nach Hause.
Und weil mir sowas auf der Straße zu peinlich ist, habe ich gewartet, bis ich zu Hause war, um ein sehr lautes Triumphgeheul abzulassen: Yes, I DID IT!
Nachtrag: Der Selbstversuch ist nun schon erstaunliche vier Jahre her. Auch wenn natürlich meine Angst nicht verschwunden ist, ist der Selbstversuch sehr nachhaltig gewesen. Meine Angst heute ist zu früher gar kein Vergleich. Heute darf ich es Angst nennen, früher war es absolute Panik. Erstaunlich, weil eigentlich Vogelspinnen so wenig gemein haben mit den üblichen dicken Jagdspinnen im Haus, aber anscheinend habe ich mein Hirn erfolgreich immerhin ein wenig umprogrammiert. Ich kann es jedem nur empfehlen, so einen Selbstversuch auszuprobieren.