Viele von Euch sind bei dieser Überschrift innerlich ein bisschen zusammengezuckt, oder?
Die meisten meiner LeserInnen sind Deutsche. Meine Statistik besagt, dass ich – kaum verwunderlicherweise – ca. 92% Zugriffe aus Deutschland habe. Die anderen 8% dürften Familienangehörige sein, die sich in der Welt verteilt haben, ein paar andere Reiseblogger, die sich mal wieder auf Welttournee befinden und ein paar verirrte Google-Sucher.
Wie viele Menschen „mit Migrationshintergrund“ mich lesen, darüber habe ich leider keine Ahnung, befürchte aber, dass es nicht viele sind, weil ich keine Themen bediene, die klassischerweise den Migrationsgefühlsteil dieser Menschen ansprechen würden: Politik klammere ich aus, obwohl ich mich als politischen Menschen betrachte, fühle mich aber zu dumm, um darüber öffentlich zu schreiben. Ausfälle bestätigen die Regel.
Rassismus hat mich – und dafür schäme ich mich zutiefst – sprachlos werden lassen. Ich habe mich von meinem Berlin Postkolonial e.V. entfernt, wie es ferner nicht sein kann, poste höchstens dann und wann einen echauffierten Kommentar auf Facebook oder irgendeinem Blog, wenn mir einmal wieder der Kragen geplatzt ist, wofür ich dann meist ein „Du bist so über-PC“ oder „Humor hast Du auch nicht“ einstecken muss.
Bei den Ausbildungsproblemen dieses Landes, was bereits Grundschulkinder behandelt wie ein zu beseitigendes Übel und Ungleichheiten bei Bildungschancen eher schafft statt sie beseitigt, fühle ich mich machtlos und versuche, darüber hinwegzuschauen. Ich habe ja selbst keine Kinder und bin, wie die meisten von uns, zu sehr mit mir selbst beschäftigt.
Von meinen wenigen arabisch- und türkischstämmigen Freunden weiß ich jedenfalls, dass sie mein Blog nicht sonderlich interessiert. Früher habe ich mit ihnen über den Koran diskutiert und die Möglichkeiten, diverse muslimische Glaubensrichtungen mit einer friedlichen Moderne zu vereinen. Heute habe ich mein Studium beendet, einen Job, tausend andere Hobbys, eine Patchworkfamilie, und ich reise zu viel, als dass ich fürs Diskutieren noch viel Zeit hätte.
Jüdische Freunde habe ich nicht, nur Bekannte, und die leben in Israel, das ich in knapp einem Monat besuchen werde, wenn wir denn das Gefühl haben, nicht unmittelbar gefährdet zu sein, je nachdem, wie sich die Situation dort gerade entwickelt, denn ich bin nicht mehr alleine und gehe nicht mehr alle Risiken ein. Mit einer Familie ist man vorsichtiger, auch wenn mich – die freiheitsliebende und leider etwas stimmungschaotische Hippiefrau – sowas wie „Verantwortung“ beizeiten megamäßig nervt.
Ich lese viel derzeit über Israel und das Zusammenleben von Moslems, Juden und Christen dort, ich lese über eine furchtbare Spaltung, in der ich einfach auf keinen Nenner komme, was eine eindeutige Position angeht. Ich habe auf meiner Südamerikareise mit vielen israelischen Juden gesprochen, die nach ihrem Militärdienst als Reiseziel Südamerika bevorzugen, weil sie dort keine Probleme haben, Grenzen zu überqueren und Unterkünfte zu finden, wie es in vielen Ländern der Fall ist. Gespräche mit türkischstämmigen Moslems, äh, Deutschen (wie reihe ich das jetzt politisch korrekt aneinander?), haben mir Einblicke gegeben und mich verwirrt. Mit einer alten Freundin habe ich mich verkracht, die seit Jahren in der Westbank arbeitete und sich zunehmend zu derart antisemitischen Äußerungen hinreißen ließ, dass ich es nicht mehr vertreten konnte, mit ihr befreundet zu sein – und sie wollte auch nicht mehr mit mir befreundet sein, denn ich habe zu wenig Position bezogen. Sie war allerdings auch diejenige, die mir erstmals vor Jahren schon von Netzen über arabischen Vierteln berichtete, um die Menschen dort vor Steineschmeißerei zu schützen – ein Alltagszustand jenseits meiner Vorstellungskraft.
Ich sitze in der U-Bahn und lese in der Süddeutschen Zeitung über einen russischen Blogger, der neuer Bürgermeister von Moskau werden möchte, mehr Demokratie fordert und sich zur Aufgabe gemacht hat, Putin und die russische Korruption zu bekämpfen. Der damit seine Freiheit riskiert und höchstwahrscheinlich auch sein Leben, denke ich, auch wenn das nicht so explizit im Artikel steht. Am Ende des Artikels wird erwähnt, dass er vor allem „die Migranten“ für alle Verbrechen in Moskau verantwortlich macht – ein bisschen Populismus schade ja nie.
Es gibt kein Schwarz-Weiß.
Ich lese, dass jemand bei der Leichtathletik-WM seine Silbermedaille Homosexuellen gewidmet hat, um damit ein Zeichen gegen Putins furchtbare Anti-Homo-Politik zu setzen, und freue mich ein bisschen, auch wenn ich das Gefühl habe, dass der Weg in Russland noch unglaublich weit ist, so wahnsinnig weit, denn als ich neulich in Kasachstan war, hatte ich das Gefühl, ich hätte in einer Zeitkapsel gesessen und dürfte nun die UdSSR live einmal miterleben – ein Erlebnis, auf das ich nicht unbedingt ein zweites Mal scharf bin.
Über die jüngsten „Eskalationen“ in Ägypten lese ich auch. Nachdem ich vor einigen Tagen von geheimen Foltergefängnissen auf dem Sinai erfuhr, die seit Jahren dort existieren, während ich nebenan friedlich Urlaub gemacht habe, verfolge ich die aktuellen Entwicklungen umso mehr, ganz davon abgesehen, dass diese Entwicklungen für die ganze arabische Welt und für uns von Bedeutung sind. Ich sitze zu Hause und lese SPONs Liveticker und es macht mich verrückt, wie die Zahlen der Toten steigen. „Hunderte Tote“, titelt SPON, mir wird schlecht, ich denke, warum muss das sein. Warum gibt es so viele „Hooligans statt Fußballfans“, wie es der Mönch Nikodemus neulich so treffend im SZ-Magazin-Interview über die Anhänger der Religionen in Bezug auf die Probleme in Jerusalem ausdrückte. Warum können wir nicht miteinander umgehen, ohne uns und unsere Umwelt zu zerstören? Warum verstehe ich das alles nicht?
Und in diesem Moment, in dem ich all diese Berichte in meinem Kopf wiederkäue, flüchtet mein Hirn dorthin, wo es sich sicher fühlt und kuscheln kann mit einer anderen Wirklichkeit: Zuhause nach Deutschland. Ich bin völlig hin und weg, hier und heute, von diesem Gedanken, und bekomme einen Kloß im Hals, aber nicht vor Beklemmung, sondern vor Freude, weil mein Hirn so etwas das allererste Mal denkt, seit nun fast 40 Jahren, die ich mit der Beklemmung aufgewachsen bin, das „Deutsche“ in mir mit Argwohn zu betrachten, immer kritisch zu sein, einen Duckbuckel zu machen, sobald ich das Wort höre: Deutschland.
Neulich war ich in der Prignitz und habe mit mir sehr sympathischen Menschen gesprochen. Ja, sie sprechen einen anderen Dialekt, und die meisten von ihnen sind sogar in einem anderen Land aufgewachsen als ich, aber sie sprechen meine Sprache. Ich bin gerne auf dem Darß unterwegs und mag den Norden sowieso, diese Zurückhaltung, die leicht schroffe Art, denn da finde ich mich wieder. Aufgewachsen bin ich in Wolfsburg, in Niedersachsen, und dort bin ich natürlich erst recht daheim. Meine Familie ist weiter gen Westen gezogen und auch hier fühle ich mich Zuhause. Über den Süden kann ich leider zu wenig sagen (sorry, Bayern, einmal wieder!).
Was ich damit sagen will: Mir ist klar geworden, dass Zuhause nicht nur dort ist, wo meine Lieben wohnen und wo ich mein trautes Heim habe, wie ich es früher propagiert habe. Dass ich zwar gerne und viel reise und schon sehr viele wundervolle Gegenden kennen lernen durfte, denn ja, glücklicherweise besteht der Rest der Welt eben nicht nur aus Krieg, Hass und Gewalt sondern auch aus unglaublich schönen und friedliebenden Orten und Bewohnern, dass mein Zuhausegefühl aber in Deutschland wohnt. Dass dieses Gefühl sicher nicht innerhalb der exakten Grenzen Deutschlands zu finden ist, aber mit dem Land Deutschland sehr wohl zu tun hat, auch und gerade durch die Geschichte.
So viele Probleme es auch in diesem Land geben mag: Ich fühle mich hier geborgen, und ich wünsche mir dringend, dass das auch alle anderen Menschen tun, die hier leben und leben möchten.
Mein Kopf ist frei geworden, und ich verstehe jetzt – vielleicht sogar gerade durch meine Reisen – ein wenig mehr, warum viele Menschen sich nach einem Zuhausegefühl in einem Land sehnen, und sich nicht nur mit den eigenen vier Wänden zufrieden geben.
Denn das ist, was auch die Menschen in Jerusalem suchen, und in Ägypten, die meisten auf dem Sinai und natürlich in ganz Israel: Zuhause in einem Land zu sein, eine Heimat zu haben.
Die Menschen, die hierher kommen und vor Armut oder Gewalt fliehen oder einfach nur ein besseres Leben für sich und ihre Kinder erhoffen: Sie wünschen sich ein Zuhause. Ein Zuhause in Deutschland.
Dieser Post ist Teil der Blogparade „Was ist Eure Heimat?“ von Katja. Warum ich meist statt des Wortes „Heimat“ das Wort „Zuhause“ verwendet habe, erkläre ich hier.