Istanbul an einem Samstag Ende September.
Am Taksim-Platz ist nichts los, überhaupt nichts, nur ein Hund liegt schläfrig in der frühen Morgensonne, sonst: gähnende Leere auf dem Platz und im Gezi-Park.
Ich weiß nicht genau, wie ich das finden soll, dass die Proteste nun beendet sind. Berichte vom krassen Vorgehen der Polizei kommen mir in den Sinn, jetzt werden wenigstens keine Menschen mehr mit Tränengas verletzt, aber natürlich schlägt mein Herz immer für Demonstrationen, die Freiheit und Toleranz ausrufen, und das waren die Worte, die ich gehört habe.
Proteste im Gezi-Park
Im Sommer hatten hier erst einige hundert Menschen gegen den Bau einer Einkaufspassage demonstriert, nach und nach wurde ein Protest vieler Tausender gegen tradierte Gesellschaftsvorstellungen und Ministerpräsident Erdogans Politik daraus. Mindestens 6 Menschen kamen bei den Auseinandersetzungen mit der Polizei, die hart gegen die Demonstranten vorging, ums Leben, mehrere Tausend wurden verletzt, der Protest letztlich nicht durch Gespräche sondern durch das entschiedene Durchgreifen der Regierung beendet. Was für eine Legitimation hat eine Regierung, die gegen die eigenen Bürger vorgeht, ohne das Gespräch zu suchen?
Aber ist es wirklich so einfach?
Ist es tatsächlich die Mehrheit der Bürger in der Türkei oder wenigstens in Istanbul gewesen, die die Proteste unterstützt hat, oder wurde diese Darstellung von den Demonstranten und der Berichterstattung in den westlichen Medien propagiert, wie es Nihal Bengisu Karaca, türkische Kolumnistin, unterstellt, und die Unterstützer der Protestbewegung sind eine kleine Minderheit?
Verschwörungstheorien, „der Westen“ habe Aufwiegler in den Gezi-Park eingeschleust, um so Erdogans hartes Durchgreifen zu provozieren, damit dieser in der Weltpresse negativ dastehe, schenke ich persönlich keinen Glauben. Meine Erfahrung sagt, dass Verschwörungstheorien zu 99% schlicht die Ausgeburt einiger Übereifriger sind, ob aus Langeweile oder der Not einer anderen Erklärung heraus als der Naheliegenden. Dennoch finde ich es schwierig, so ein einfaches Urteil à la „gut gegen böse“ zu wagen. Ist meine Sichtweise nicht zu simpel? Kann ich mir überhaupt als Westlerin ein vollständiges Urteil erlauben?
Stopover in Istanbul und eine Begegnung
Wir hatten nur 5 Stunden Zeit in Istanbul, und doch war die Begegnung mit Hüseyin Çetinel eine der spannendsten Begegnungen im letzten Jahr. Auf dem Weg nach Israel hatten wir einen Stopover eingelegt, denn Istanbul, so heißt es, die Stadt, die Europa und Asien verbindet, muss man einmal im Leben gesehen haben.
Von Freunden hatte ich mir sagen lassen, was ich gesehen haben sollte. Zwischen Blauer Moschee, Hagia Sophia und der Zisterne, was wunderschön aber alles viel zu vollgestopft ist, bleiben uns zwei, drei Stunden Zeit, um durch die Gegend zu schlendern und einen allerersten Eindruck zu gewinnen.
Als mein Blick auf eine riesige, in Regenbogenfarben angemalte Treppe auf der Straßenseite gegenüber fällt, packe ich den Mann natürlich gleich am Arm, sowas muss fotografiert werden, ist doch klar.
Während ich also meine bescheuerten Posen abziehe und der Mann brav abknipst, stellt sich vom Café nebenan ein älterer Herr dazu, amüsiert sich offenbar über uns und verschwindet wieder im Innern.
Wir beschließen, dass das ein guter Moment für ein kleines Bierchen ist, und während ich mich frage, ob in einem türkischen Café um den frühen Nachmittag bereits Bier serviert wird und merke, dass in meinem Kopf einmal wieder allerlei Klischees festhängen, gesellt sich der Alte schon zu uns. Wo wir herkommen würden, fragt er. Nein, der Besitzer sei er nicht, das seien seine Töchter, aber er helfe hier jeden Tag aus, ein Familienunternehmen, nur so würde es funktionieren, sein Name sei Hüseyin Çetinel. Ein paar Worte Deutsch kann er, demonstriert er uns, in Heidelberg sei er gewesen und in Berlin, habe dort Freunde. Ja, sage ich, Berlin ist ja auch Klein-Istanbul, die Stadt zu einem großen Teil geprägt von türkischer Kultur, und der Döner erst, fällt der Mann ein, was wäre Berlin bloß ohne Döner. Hüseyin lacht.
Ob wir die Geschichte der Treppe kennen würden, fragt er uns. Die Geschichte? Sofort hat er meine Aufmerksamkeit. Ich sitze mitten in Istanbul in einem Café, und ein Einheimischer möchte mir die Geschichte einer Regenbogentreppe erzählen: Mein Hippieherz lächelt.
Die Geschichte der Regenbogentreppe
Das ewige Grau habe er nicht gemocht, erzählt er, da habe er die Treppe im August gestrichen, in bunten Farben, 145 Stufen. Eine ganze Woche habe das gedauert. Doch der Staat („the state“) habe Ende August abgewartet, um Durchzugreifen und gegen die Leute im Gezi-Park und alle Demonstranten vorzugehen. Den Zeitpunkt, meint er, hätten sie gewählt, weil viele dann im Urlaub seien, also wenig Widerstand zu erwarten sei. Und tja, auch seine bunte Treppe sei wohl ein Anstoß gewesen, jedenfalls hätten die Staatsleute sie wieder grau gestrichen. Nur wenige Tage, nachdem er fertig mit dem Anstrich war.
Aufgeregt habe er sich, na klar, wie kann das denn sein, und irgendjemand habe es dann wohl weitererzählt, und irgendwie kam dann mal ein Reporter vorbei. Und nach dem ersten Reporter kam ein zweiter und nach dem kam er ins Istanbuler Fernsehen. Und während sich die Geschichte der Regenbogentreppe in Istanbul innerhalb eines Tages verbreitete, seien Leute gekommen, immer mehr Leute, und die Treppe sei so etwas wie ein fortgesetzter Gezi-Park gewesen, ein Symbol für die Freiheit. Und irgendwann organisierten dann einige Leute bunte Farben und strichen die Treppe wieder regenbogenfarben. Reporter der NY-Times schauten zu.
Als ob er gut vorbereitet wäre, zückt er sein Smartphone und zeigt uns auf youtube Videos von den vielen Menschen um seinen Laden herum. Auch einen Twitter-Account habe er, er sei jetzt 68 und so etwas wie eine lokale Berühmtheit, bemerkt er ein bisschen stolz.
Ja, natürlich seien die Staatsleute wiedergekommen, antwortet er auf meine Frage, und doch, ja, er habe gewusst, dass sie ihn jederzeit ins Gefängnis hätten stecken können, denn man hätte ihm das als Aufwieglerei auslegen können. Aber sie hätten sich nicht getraut, die Treppe noch einmal überzustreichen, der Protest wäre wohl zu groß gewesen. Mittlerweile gibt es viele Regenbogentreppen in Istanbul, erzählt Huseyin, die Regenbogenfarben wurden zum Symbol der Veränderung, der Freiheit, der Toleranz, es sei sehr wichtig zu wissen, zu merken, dass friedliche Regenbogenfarben so eine Bewegung auslösen können, und ich muss ihm versprechen, die Geschichte der Treppe weiterzuerzählen.
Wir müssen uns verabschieden, viel zu früh von ihm, seiner Geschichte, von Istanbul. Und während er mir die Hände drückt sagt er „Birds don’t have a passport“, Vögel haben keinen Pass, und in dem Moment weiß ich: Auch er hat sich entschieden, in seinem Urteil, und für ihn ist die Sache glasklar: Baris için.
Sevgili Hüseyin,
ben hikayeyi oldukça iyi anlatmaya uğraşdım, umarım bazi insanlarin hoşuna gitmişdir. Gel beraber insanları güldürelim. Barış için.
Nachtrag: Die Regenbogentreppe wurde von der Regierung immer wieder grau gestrichen und stets erneut bunt bemalt – von Bürgerinnen und Bürgern Istanbuls. Die Regierung konnte sich offenbar nicht anders behelfen, als die Treppe abzureißen. Was für ein Armutszeugnis. Ob sie wieder aufgebaut wurde, ist mir leider nicht bekannt.
Die Regenbogentreppe in Presse und Medien
- Leider wurden in der Zwischenzeit diverse Bloggervideos auf youtube über die Regenbogentreppen gesperrt. Ich kann nicht mehr nachvollziehen, warum und wer die Blogger waren, sie werden einfach nicht mehr angezeigt. Ich hoffe sehr, dass es Hüseyin gut geht.
- Youtube-Video von der grau übermalten Treppe und den ersten Interviews der Presse mit Hüseyin (Türkisch), 30.08.2013 Leider inzwischen gesperrt!
- The New York Times: With a Burst of Color, Turkey’s Public Walkways become a Fokus of Quiet Protest, 03.09.2013
- Huffington Post (Englisch): The Heartwarming Story behind Turkey’s Rainbow Staircase, 10.09.2013
Disclaimer: Ich danke Didem und Özen für die Übersetzungshilfe. Die Geschichte fand ich glücklicherweise durch reinen Zufall auf der Straße.