Neue Maßnahmen gab es heute nicht, allerdings rechnen viele, inklusive mir, noch vor dem Wochenende mit einer Ausgangssperre.
Ob wirklich die Menschen daran Schuld wären, die sich nicht an das Gebot des Abstands halten wollen, ist fraglich, schließlich gibt es recht genau Notfall-Pläne, mit denen solche Maßnahmen nach bestimmten Kriterien umgesetzt werden, außerdem schwant mir, dass diejenigen, die derzeit nach Ausgangssperren rufen, einfach sehr laut sind, und laute Forderungen werden ja leider doch eher gehört.
Wer da fordert? Gefühlt fast jede:r. Alle wissen alles besser. Ok, das liegt wohl in der Natur unseres beschissenen Menschseins. Die Blockwartmentalität, die jetzt allerdings zum Tragen kommt, macht mich einigermaßen fassungslos, so dass ich heute wenig in Twitter und Facebook geschaut habe, um meinen Frust von gestern ein wenig abzubauen.
„Schaut mal da, so viele Menschen im Park!“
„Ab sofort alle Physiothermine absagen!“
„Wie bitte, Du bist spazieren gegangen?!“
Ich wundere mich.
Es gibt ein generelles Besuchsverbot in den Altenheimen, nach und nach werden Sportplätze und Kinderspielplätze gesperrt.
Mich wundert, dass so viele die Energie haben, sich in den Social Medias über „die Menschen“ zu echauffieren. Wäre es nicht sinnvoller, das Problem an Ort und Stelle zu erläutern? Wäre es nicht ohnehin sinnvoller – da wir ja nun wissen, dass dies kein Sprint, sondern ein Marathon werden wird – zu lernen, im Alltag, trotz Alltag, den erforderlichen Mindestabstand zu halten? Dass Kinder das schlecht können, ist sicher richtig. Was ist daran richtig, den Alten jeglichen sozialen Kontakt zu verwehren? Wie lange soll das gehen – jahrelang?
Aus dem #SocialDistancing ist leider eine Self-Fulfilling-Prophecy geworden: Wir gehen auf Soziale Distanz, dabei sollte es doch nur eine physische Distanz sein. Ich plädiere hier noch einmal dafür, die Forderung auch korrekt in ihrer Sinnhaftigkeit #PhysicalDistancing zu benennen. #SocialDistancing ist jedenfalls etwas, das diese Gesellschaft nicht noch mehr gebrauchen kann und viele Menschen in eine ganz persönliche Krise stürzen wird.
Wieso echauffieren sich Menschen über andere spazierengehende Menschen? Island ruft seine Bürgerinnen und Bürger dazu auf, die Zeit draußen zu verbringen. Frische Luft und Sonne sind gesund. Wir selbst gehen jeden Tag 30 Minuten bis eine Stunde spazieren und kommen dabei niemandem zu nah. Könnte das schwierig sein in der Stadt? Vielleicht. In einer Stadt wie Berlin fällt mir das allerdings schwer zu glauben. Egal, an welchen Kiez ich denke, es gibt immer Möglichkeiten.
Dass 10% der Menschen die geforderten Maßnahmen nicht einhalten, ist erwartbar. Doch nicht jedes Pärchen im Park, nicht jede Freundesclique ist ein Problem, wenn sie denn in ihren Clustern bleiben. Und es gibt so viele Ideen jenseits der Ausgangssperren, um die Menschen weiter zu schützen. Dass die ersten zwei Ladenstunden den Älteren und Immungeschwächten zum Einkaufen vorbehalten werden zum Beispiel.
In Wien dürfen die Nachbarn zueinander Kontakt haben (dafür sind alle anderen Maßnahmen allerdings strikter), denn so entstehen die so genannten „Cluster“ – ich glaube, ich habe das Wort von Drosten – bei denen zwar eine Gruppe von Menschen zueinander Kontakt hat und somit das Isolationsgefühl gering gehalten wird, diese Gruppe hat jedoch wiederum keinen Kontakt nach außen. So ähnlich schlug es Drosten bei den Kindern vor, die man ja nun schlecht ein Jahr lang ohne Freund:inne Zuhause einsperren kann: Gruppen, ja, dann aber bitte kleine Gruppen und immer dieselben Kinder.
Ach man stelle sich vor, man hätte eine Großfamilie, wie schön könnte es sein. (Einmal herübergewunken zu unseren türkischstämmingen Mitbürger:innen, wo Großfamilien viel üblicher sind.)
Noch einmal: Wir müssen jetzt nicht nur einfach mal zwei Wochen Zuhause absitzen. Wir müssen mit den Maßnahmen erst einmal leben.
Wem soll also dieses ganze Gemeckere in den sozialen Medien nützen? Wer seid Ihr, dass Ihr Euch anmaßt zu wissen, welche gesundheitlichen Termine wichtig sind und welche nicht? Und woher wisst Ihr, wer sich da gerade mit dem trifft und warum das nun unbedingt so scheiße ist, dass Ihr das auf Twitter kundtun müsst?
Ehrlich, meine ganze Timeline ist voll, und das macht mich ganz schön fertig. Und es bleibt ja nicht beim Gemeckere, es kommt ja der erhobene Zeigefinger.
Mir dünkt, diejenigen, die nun die Ausgangssperre fordern, sitzen nicht in viel zu kleinen Wohnungen ohne Balkon, sie haben auch keine Kinder, und vermutlich keine Eltern oder Großeltern, um die sie sich kümmern, und die sie sorgenvoll anrufen, dass sie nun wohl ihre letzten Lebensjahre in Isolation verbringen müssen.
Ja, vielleicht machen es viele falsch. Vielleicht bin ich ganz zufällig hier in Süd-Berlin im Wolkenkuckucksheim gelandet, denn hier sehe ich, wie sich alle Mühe geben. Ja, vielleicht benötigen wir noch weitere Regularien und müssen NOCH besser aufklären. Aber Ausgangssperren und Komplettisolierung?
Mir scheint, dass viele das Problem der Isolierung unterschätzen. Das, was ich weder gestern noch heute schaffe, in vernünftige Worte zu kleiden, hat inzwischen Sascha Lobo für mich getan.
Es ist schon wieder spät, ich bin schon wieder müde. Eigentlich wollte ich noch kurz auf Verschwörungstheorien eingehen, aber vielleicht ist das ohnehin besser als satirischer Tagebucheintrag irgendwo in den nächsten Tagen aufgehoben, schließlich sollte man diesen Mist besser weglachen, egal, wie unfassbar gruselig-doof er ist und von zigtausenden (!) verteilt wird.
Auf Facebook habe ich ein Posting gesehen mit dem Titel „Wir müssen jetzt alles hinterfragen.“ Verlinkt war irgendein sabbelnder Youtuber.
Nein, vielleicht sollten wir jetzt gerade mal nichts hinterfragen. Die meisten von uns sind keine Epidemiologen oder Virologen, ja, wir haben nicht einmal den Hauch einer Ahnung von diesen Fachgebieten. Wir wissen auch nicht, wie es ist, in der Großen Koalition ein Land zu führen und drastische Entscheidungen zu treffen. Wir wissen nicht, wer sich da „im Park tummelt“.
Vielleicht ist es einfach mal an der Zeit, nichts zu hinterfragen, offiziellen Empfehlungen zu folgen und einfach mal die Fresse zu halten.