Aus Corona ist Alltag geworden, aus Besorgnis und Angst Normalität, und ich habe seit über einem Jahr kein Coronatagebuch mehr geschrieben und seit einem halben Jahr überhaupt keinen Blogpost. Das hat Gründe.

Ich sitze im Garten und schaue den Spatzen zu, wie sie sich einander das Vogelfutter streitig machen, manchmal brav auf der am Haus angelehnten Holzleiter warten, bis sie an der Reihe sind, oder sich unter den Farnen von der Hitze der Sonne erholen. Sie sind lustig, gesellig und hacken einander regelmäßig beim Futter weg.
Kommt mir bekannt vor.

Nach langer Zeit gibt es mal wieder eine Hörempfehlung für diesen Post:
Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt – Danger Dan feat. Igor Levit

Mit lautem Getöse fliegt ein Flugzeug am Himmel – tatsächlich immer noch ein ungewohntes Geräusch, obwohl die Flieger längst wieder ihren Betrieb aufgenommen haben. Die lange Stille war unheimlich und erholsam zugleich.

Manchmal ist es besser, einfach zu schweigen. Früher hätte ich an dieser Stelle Dieter Nuhr zitiert („Einfach mal die Fresse halten“), aber Nuhr kann man nicht mehr zitieren, denn Nuhr ist ein doofer Typ, der sich rechte Semantik angeeignet hat.
Kompliziert ist die Welt geworden, weil selbst graue Kategorien ihren Inhalt verflüssigt haben. Rechts – links? Nimm Dich bloß vor tanzenden Esos in acht, die kommen gleich mit einem Judenstern um die Ecke, weil sie sich durch die Maske und Coronatests in ihrer Freiheit beraubt fühlen.
Zudem: Wir sind alle dünnhäutig geworden. Mir kommt es manchmal vor, als sei meine Membran noch nie so porös gewesen.

Ich habe auch im letzten Jahr häufig versucht, politisch zu diskutieren, weil mir viele Dinge in der Gesellschaft wichtig sind, komme aber mit ad hominem Argumentation einfach nicht klar. Insbesondere Frauen kennen das, insbesondere von Männern. Und ja, ich höre jetzt ein paar männliche Leser seufzen und nein, es sind weder alle Frauen noch alle Männer gemeint und auch nicht, dass nicht auch Frauen beleidigen oder persönlich werden können. Doch die Häufung, mit der Frauen in Diskussionen von Männern persönlich angegangen werden, dürfte jeder aufmerksamen Diskussionsteilnehmerin bekannt sein.
Für mein Empfinden ist das schlimmer geworden im letzten Jahr und hat sogar Freundschaften beendet.
Es kotzt mich an.
Auch ich bin in Online-Diskussionen spröder, unfreundlicher, unangemessener geworden, auch das kotzt mich an. Und es halt letztendlich dazu geführt, dass ich mich mehr zurückgezogen habe. Das finde ich überhaupt nicht gut und nicht positiv, denn ich brauche kein Rosawolkenkuckucksheim, in meiner Idealvorstellung diskutieren wir alle tagtäglich miteinander, denn so ist das in einer Demokratie, und das ist gut und notwendig.
Wenn ich nicht mehr rede, geht es mir nicht gut, habe ich mal auf meiner Über-Mich-Seite geschrieben, und das stimmt auch immer noch. Es ist eine schwierige Zeit, und ich will ja gar nicht schweigen. Ich will aber auch nicht nur Sinnloses sagen, mich beleidigen lassen oder mich mit diminutiv-Argumenten auseinandersetzen. Ach Inkalein hat wieder ein Problem.

Eine Schnecke schiebt sich faszinierend Moonwalk-like über meine Hand und schmatzt über meinen Finger. Ein Gefühl der Entschuldigung, denn ich habe heute früh ein Schneckenhaus mit Schnecke zertreten. Es war leider zu kaputt, um es zu reparieren, und ich Feigling habe die sterbende Schnecke ins Blumenbeet gelegt, statt sie ins kochende Wasser zu schmeißen.

Ich habe mich noch nie im Leben so eingesperrt gefühlt wie derzeit, und das ist eine zutiefst überraschende Erkenntnis. Als in fast jeder Hinsicht privilegierte Person sich eingesperrt zu fühlen, dazu gehören entweder ein paar sehr lose Tassen im Schrank oder eine ordentliche Überbetonung der eigenen Wichtigkeit. Ich ziehe selbstverständlich die losen Tassen vor, dennoch: Sich eigene, sehr unangenehme und vom eigenen Ideal sehr abweichende Eigenschaften einzugestehen ist eine unschöne Sache.
Bei unschönen Sachen ziehe ich es normalerweise vor, mal ordentlich und in Ruhe darüber nachzudenken, nur war hier weder Ordnung noch Ruhe, in mir drin jedenfalls nicht. Blöderweise konnte ich ja auch nirgendwohin fahren, einfach mal mit einer Runde Wandern den Kopf frei bekommen oder irgendwo eine weite Leere aufsaugen, und während gerade alle Welt zu reisen scheint, weil ihnen entweder Corona egal ist oder sie im eigenen Auto reisen, sitze ich weiterhin Zuhause und fühle mich eingesperrt. Noch nie habe ich es so bereut, keinen Führerschein zu haben. Und ja, den habe ich tatsächlich letztes Jahr angefangen aber während einer Pandemie zu versuchen, den Führerschein zu machen ist das nächste sehr unschöne Ding.

Hier im Blog hätte ich gerne über die 111 vergangenen Reisen geschrieben, die ich noch nicht verbloggt habe, doch der dauermütende Zustand („wütende“ + „müde“) hielt mich davon ab. Zur allgemeinen unschönen Lage nicht nur meiner Welt, sondern der gesamten da draußen zwischen groteskem Wahlkampf, Fakenews, Coronaleugnern, Querschwurblern, Schwarzweißdenkern, sterbenden Menschen, Klimakrise, Flüchtlingskrise, Artensterben, Lobbyismus, Rassismus, den unglaublich vielen egomanen Menschen, die jegliche moralische Hemmungen haben fallen lassen und sich an dieser Pandemie bereichern (ich sage nur: Maskendeals und Coronatests), kommt der Sinnlosigkeitsgedanke des eigenen Tuns.
Als ich hier die letzten Jahre viel über Brandenburg berichtete, hatte das noch Exotencharakter. Heute, eineinhalb Jahre in einer Pandemie, in der ganz Berlin entdeckt hat, dass es einen schönen grünen Vorgarten gibt, in der die Klimakrise noch einmal viel mehr in meinen Fokus gerückt ist, ein Jahr, in dem ich meine Wechseljahre zu spüren bekam und mir noch einmal mehr bewusst wurde, dass dieses Leben irgendwie auch sinnvoll gelebt werden will, sind mir die Worte fürs Blog ausgegangen.
Ich weiß noch nicht genau, was ich mit diesen Gedanken anfangen werde. Ich weiß, dass ich blickgewinkelt weiterführen möchte, aber mir ist wohl einmal mehr bewusst geworden, dass es mir einfach nicht reicht, den xten blass oberflächlichen Reisebericht zu schreiben. Ob ich aber künftig meinen eigenen Ansprüchen genügen kann, steht noch in den Sternen.
Vermutlich ist die Diskrepanz zwischen hier und Indien, zwischen meinem Heim und dem Leben in Aleppo, meinem Garten und Moria, meinem Einkauf und den Auswirkungen auf die Welt, meinen Reisen und der Klimakrise und meinem täglichen für die Welt absolut sinnlosem Gelaber gerade für mich einfach schwierig zu verarbeiten. Ambiguitätstoleranz ist das Zauberwort, die habe ich wohl gerade eher nicht. Immerhin: Ich glaube nicht an Reptiloiden.

Mit umso größerer Befriedigung werkle ich gerade im Garten und drehe komplett überflüssige Insta-Stories über wachsende Paprika und Nacktschnecken. Und wundere mich über mich selbst.

Ich hole die Gießkanne und fange an, das Gemüse und meine Pflanzen zu gießen – es ist schon wieder relativ trocken. Erschreckt flüchtet ein Spatz von der Futterstation. Sie können sich immer noch nicht ganz an uns gewöhnen, einige sind mutiger, andere sehr schreckhaft. Ich stelle mir vor, wie sie sich tschilpend untereinander austauschen:

„Da ist doch noch NIE was passiert, meine Güte, stell Dich nicht so an!“
„Aber ich hab halt Respekt vor Neuem. Vorsicht ist die Mutter des Geleges!“
„Noch nie ist was passiert, und wir haben uns SCHON IMMER so versorgt!“ (Wir haben die Futterstation nun seit drei Jahren.)
„Aber findet Ihr das nicht ein bisschen sehr convenient, Euch immer nur hier zu bedienen? Was ist denn aus der guten alten Selbstversorger-Zeit geworden?“

Die Faulheiten lauern überall. Zur Zeit lauern sie besonders schlimm in meinem Bett. Und die „ich hab so viele Pläne und so viele Ideen und ich muss ja auch noch 87 Dinge erledigen“-Gedanken verschwinden Tag für Tag unter der Bettdecke, und würde ich aufräumen und die Decke liften, würde ich wohl mit der Büchse der Pandora davongeschwemmt werden.

Ich muss mir eingestehen, dass ich meine Mitte momentan nicht finde. Das ist insofern – neben aller ohnehin vorhandenen Privilegiertheit – ein Luxusproblem, weil ich diese Mitte sehr viele Jahre gehabt habe, und dafür bin ich auch sehr dankbar. Und ich weiß auch, dass ich sie wiederfinden werde, nur momentan fühlt es sich eben nicht schön an. Momentan empfinde ich mich sinnlos in dieser Welt. Ich schreibe das, obwohl ich weiß, dass man das in dieser Hochglanz-Magazinlebenswelt heutzutage nicht macht, einfach öffentlich sagen, dass es einem nicht so gut geht, das passt nicht in diese Selbstoptimierer-Welt mit glücklichem Glow in der Foundation.
Aber das ist mir gerade ziemlich egal. Und das wiederum fühlt sich netterweise mal richtig gut an.

Tschilp.

PS: Ich möchte ein paar Menschen hier danken, ohne ihre Namen zu nennen, ich denke, falls sie das lesen, wissen sie, dass sie gemeint sind. Für die mentale Unterstützung im letzten Jahr, für die ein oder andere kurze Nachricht, dass sie Dinge ähnlich sehen, oder auch nur ein Wort der Wertschätzung. Manchmal so wichtig, danke!

Zur Übersicht Coronatagebuch