Der Tag begann mit einem Nervenzusammenbruch. Ich würde das jetzt gerne in einen Joke verpacken und darüber lachen, war aber tatsächlich gar nicht witzig.
Auslöser – und daran sieht man wohl, wie fragil meine Stimmung gerade ist – waren die Radioeins-Nachrichten mit der Meldung, 75% der (Berliner? Deutschen?) Bürger:innen würden sich eine Verschärfung der Ausgangsregeln wünschen.

Eine Verschärfung. 75%.

Ich muss das immer noch sacken lassen. Wir dürfen uns nun ohnehin schon – grob gesagt – nur noch zu zweit in der Öffentlichkeit sehen lassen und uns nur noch im engsten Familienkreis oder Haushalt treffen. Was genau sollen schärfere Regeln denn da bringen?

Führerslust und Führersfrust

Auf Twitter habe ich mich mit Menschen gestritten, die offenbar Schwierigkeiten haben zu verstehen, dass es Menschen gibt, die a) nicht der eigenen Lebenswelt entsprechen und b) andere Bedürfnisse haben.
Auf meinen Einwand, dass ich nicht mal mehr mit dem Mann und seinem Sohn spazieren gehen darf, wurde mir gesagt, ich solle mal „die Arschbacken zusammenkneifen“, dann können wir uns halt mal für ein paar Wochen nicht sehen. Aha.

Offiziell, weil woanders gemeldet, gehöre ich hier nicht zum Haushalt. Wenn ich also mit dem Mann und Sohn spazieren gehe, mit denen ich ja nun für diese Zeit zusammen lebe, damit ich nicht mehr zwischen meiner Wohnung und der des Mannes pendeln muss, droht mir eine recht hohe Strafe. Und das ist auch nicht schön zu reden und „ach das setzt ja keiner durch“, sondern das obliegt dem Ermessen des einzelnen Polizisten, dem wir begegnen (ja, es gibt wieder eine Ausweispflicht). Hallo schöne neue Welt.

Und da sprechen wir jetzt nur vom luxuriösen Fakt des Nicht-Spazieren-Gehens, was in der Tat blöd ist, aber davon geht meine Welt tatsächlich nicht unter. Anders sieht es bei anderen Patchworkkindern aus, bei Leuten mit winzigen Wohnungen etc. Es mag nicht in manches Kleinhirn passen, aber es gibt Menschen, die haben andere Lebenskonzepte und sind dennoch in der Lage, die „Cluster-Idee“ umzusetzen (Cluster = minimierter Kontakt im immer gleichen Personenkreis), auch wenn sie nicht „Mama, Papa, Kind, Altbauwohnung mit Balkon Prenzlberg, Verheiratet, gemeinsam gemeldet“ entsprechen. Ich möchte nicht wissen, in welche Bredouillen Menschen jetzt schon gebracht werden.
Mir droht hingegen bei einer Ausgangssperre, dass ich alleine zurück in meine Wohnung ziehen muss, die ist nämlich üblicherweise an die Meldeadresse gebunden. Und wer meint, das sei „Hysterie“ (da wäre ich jetzt mal sehr vorsichtig, diesen Begriff – erneut – vorschnell zu nutzen), liest sich diesen Artikel durch, der beschreibt, wie eine Mutter angezeigt wurde, weil sie ihre Kinder von ihrer Schwester beaufsichtigen ließ, um einkaufen zu gehen.

Haben 75% der Menschen wirklich keine Ahnung über diverse Lebenskonzepte und wünschen sich „den starken Söder“ als Führer? Mir schwant, dass Corona noch ganz andere Dinge ans Licht bringt, was Menschlichkeit in Deutschland bedeutet.

Sollte ich gestern vergessen haben, diesen Artikel zu teilen, tue ich es jetzt: Zeit Online: Die andere Gefahr.

Hatte ich gestern erwähnt, dass ich gerade neu gelernt habe, dass sich 10.000 Menschen pro Jahr in Deutschland umbringen? Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle und Drogen zusammen. Darüber redet nur keiner, mag sein, um die gesellschaftliche Akzeptanz von Suiziden nicht zu erhöhen, ein Problem zu verschweigen hat allerdings eher selten zur Lösung beigetragen. 90% bringen sich übrigens aus psychischen Problemen um. Man braucht keine Glaskugel, um zu wissen, dass wir da 2020 und 2021 auf ein ziemlich großes Problem hinsteuern. Übrigens ein Problem, das Merkel auf dem Schirm hatte, als sie über Ausgangsbeschränkungen mit den Ministerpräsidenten diskutierte, so las ich jedenfalls.

NDR Drosten Podcast

Der heutige Podcast war ziemlich interessant: Nachdem ich gestern das Coronavirus ein bisschen bewundert habe, weil es, wie in der gestrigen Folge deutlich wurde, so schlau ist, vor allem die Wirte zu verschonen, die das Virus am meisten durch die Gegend und zu allen Altersgruppen tragen (die Kinder), tauchte heute die Frage im Podcast auf, ob es nicht evtl. sinnvoll sein könnte, die Jüngeren absichtlich zu infizieren, um eine schnellere Herdenimmunität zu erreichen. Ursprünglich bezog sich die Frage wohl v.a. auf jüngere Ärzte, damit diese sich nach der Infektion um die Menschen kümmern können.
Ich finde die Idee nachvollziehbar, sie ist mir, wie vermutlich vielen anderen, auch schon gekommen.

Drosten hat das interessanterweise strikt abgelehnt. Aus ethischen Gründen dürfe man so etwas nicht machen, schließlich könnten da ja auch einige schwer erkranken.
Ich verstehe den Punkt, sehe aber den Unterschied nicht so richtig zur derzeitigen Idee der on-off-Restriktionen, also dass Beschränkungen verschärft werden, wenn die Infektionen hoch gehen, und sie wieder gelockert werden, wenn die Infektionen wieder runtergehen. Bei Letzterem macht man doch nichts anderes, als die Ausbreitung der Infektionen kontrolliert wieder zuzulassen, nur dass man hier nicht einmal weiß, wen man da überhaupt infiziert.

Drosten plädierte außerdem noch einmal für einen verschärften Schutz der Risikopatient:innen, was im Endeffekt ja bedeutet: Isolierung insbesondere aller alten Menschen.
Ehrlich, wenn ich jetzt 80 Jahre alt wäre: Ich glaube, da würde ich drauf scheißen. Was sind denn die letzten Jahre noch wert, wenn man sie in Isolierung verbringen muss? Darüber sollten wir wirklich mal sprechen. Ich bin jedenfalls immer noch ziemlich sprachlos, wenn ich mit meinem Vater telefoniere, weiß nicht, was ich sagen soll, und rede dann über irgendwelche anderen Sachen. Helfen tut das sicher nicht.

Andere Themen der Sendung waren übrigens

  • Südkorea, und warum die Eindämmung eventuell langfristig überhaupt nicht erfolgreich war
  • Wann ein Covid-19-Erkrankte:r eigentlich infektiös ist
  • Drostens Überzeugung, dass es bald großflächige Antikörperteste geben wird – jaaaa, das hat mich sehr erleichtert. Das ist so wichtig, insbesondere für alle Menschen im Gesundheitswesen und damit für uns alle.

Vorher

Ich erwische mich inzwischen bei Formulierungen wie „Vorher habe ich das und das getan“, oder „das war ja vorher soundso“.
Vorher, das ist vor Corona. Vorher war auch ein Wort für den 11. September. Vorher war das Leben vor dem Tod meiner Mutter.

Bei krassen Einschnitten im Leben gibt es eine Zeit des Vorher und Nachher. Beide Zeiten mögen sich sogar äußerlich ähneln, innerlich sind sie gespalten in eine Welt, die nie wieder wie „vorher“ sein wird. Beim Nachher sind wir noch nicht angekommen, vorstellbar ist es auch noch nicht. Momentan sind wir noch in der Zeit zwischen den Welten.

 

Heutige Tagesempfehlungen:

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  • Ein sehr ähnliches Konzept verfolgt die Online-Ticketing-Plattform Diginights mit der Seite https://saveyourfriends.de/.  Für Events können hier Tickets gekauft werden, die übliche Vorverkaufsgebühr bleibt außerdem, damit können sich die Jungs und Mädels von Diginights dann selbst vor der Arbeitslosigkeit retten. Ihr rettet also doppelt.
  • Wildparks retten! Derzeit sind alle Wildparks geschlossen, die meisten werden üblicherweise durch Eintrittsgelder finanziert und bekommen keine Landesmittel. Tatsächlich haben in Brandenburg auch schon einige der Parks Alarm geschlagen, dass sie finanziell die letzten Reserven angehen. Schaut doch mal, ob Ihr einen Park in Eurer Nähe unterstützen könnt. Bei mir ist es zum Beispiel der Wildpark Schorfheide.
  • Und falls Ihr so Probleme habt, die wertvollen Klopapierrollenreste wegzuschmeißen, gibt’s hier eine grandiose Verwendung (leider nicht der Coronakreativität geschuldet, sondern schon ein paar Jahre alt).

 

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