In dem Moment, als ich Begriff, dass zwei Meter hinter mir auf dem beheizten Badezimmerfussboden Emma tatsaechlich gestorben war, senkte sich vor meinem Kabinenfenster die Sonne gen Meer und bedachte die Wolken, den tuerkisblauen Himmel und die sonst weissen Spitzen der Berge der Wilhelmina Bay mit warmen Pastell- und Orangetoenen und einem Licht, wie ich es hier, wo meine Welt seit Tagen aus kuehlen Weiss-, Grau- und Blautoenen bestanden hatte, nie fuer moeglich gehalten haette.
Die Trauer um Emma hatte etwas Kurioses, denn nicht nur haette ich diesen tragischen Moment in Bild festhalten, sondern natuerlicherweise dieses magische Licht und die unwirkliche Szenerie digital ablichten wollen. Doch meine Kamera Emma war nicht mehr. Das Salzwasser der Antarktis hatte ihr heute am Spaetnachmittag im Zodiac, dem Anlandungsboot, den Garaus gemacht, denn ich hatte sie nicht genug beschuetzt.

Seit Tagen versuchten wir, den Sturm zu umfahren, der in der offenen antarktischen See umherwanderte, nur heute, ausgerechnet heute, hatte es am Nachmittag in der Bucht aufgeklart. Deshalb hatte ich abgewartet mit der Zodiac-Tour, ich wollte auf das noch schoenere Licht warten – und bekam den Wind und die Wellen. Meine Freudenrufe ob der Gischt ueber mir dauerten einen kleinen Augenblick zu lang. Emma.

Schmerzvoll musste ich nun mit ansehen, wie das fantastische Abendlicht, das fuer einen Hobbyfotografen so wertvoll ist, an mir vorueberzog und die Schneeberge in allen wundervollen Facetten zeigte, die ich mir so sehr gewuenscht hatte. Nicht einmal an Deck konnte ich gehen – zu peinlich waren mir meine Traenen, die kontinuierlich uebers Gesicht liefen, trotz dem ich versuchte, meine Verzweiflung in Schach zu halten: klemmte mir stattdessen ein Kissen vor den Bauch, umarmend, festhaltend, und schaute fortan aus dem Kabinenfenster mit dem Willen, mir diese Szenerie wenigstens moeglichst gut einzupraegen – fuer den Rest meines Lebens.

Die Farben auf der nahen Bergfront liessen nach, dafuer tauchten sie die riesigen Eisberge in der Ferne vor dem seltsamen dunkelgrauen Himmel in leuchtendes Orange und Tiefrot. Ich schrie innerlich. Nie werde ich mich so gut erinnern koennen. Nie werde ich den Daheimgebliebenen diese Szenerie auch nur annaehernd beschreiben koennen. Nie werde ich darueber hinwegkommen, dass Emma mich ausgerechnet hier und heute verlassen musste. Emma. Aber Du hattest ja immer Deinen eigenen Kopf.

Waehrend das Schiff sich langsam weiter aus der Bay schiebt, senkt sich die Sonne und mit ihr die Farben und die Berge verschwinden aus meinem Blickfeld. So schmerzhaft der Anblick bisher auch war, ich moechte diesen Moment festhalten, ich bin sicher, ich habe mir diese Bergspitze und jenes Orange und die Eisbergform dort noch nicht genuegend eingepraegt, es reicht nicht, nicht fuer den Rest meines Lebens, ich brauche noch Zeit.
Loslassen Koennen war schon immer meine Schwaeche, ich glaube, deshalb liebe ich die Fotografie. Nicht nur kann ich anderen zeigen, was ich sehe, vor allem kann ich Dinge festhalten oder wenigstens das Gefuehl haben, ich haette wenigstens ein kleines Stueck davon konserviert. Und das, warum ich nun trauern muss, ist selbst Teil des Prozesses. Und ist jetzt nicht mehr.
Wie soll ich weiterreisen? Ich bin in der Antarktis – once in a lifetime, wie man so sagt. Wie konserviere ich diese Reise? Oder soll ich mich zu den Walen ins Meer stuerzen, wenn sie sich garantiert morgen in grosser Zahl zeigen? Wieso bin ich so angewiesen auf digitale Bilder und habe staendig das Gefuehl, mich nicht genuegend erinnern zu koennen, nicht festhalten zu koennen und es unbedingt zu wollen?
Und wenn mir das schon mit meinen Bildern und meiner Kamera so geht, wie soll das dann erst mit einem Menschen an meiner Seite funktionieren?
Emma war meine Beruhigung gegen meine Angst. Ich fuehle mich verloren, obwohl mir doch irgendwie klar ist, dass ich nicht mit den digitalen Bildern im Kopf lebe. Trotzdem bin ich ratlos. Und frage mich, wie ich das mit dem Mann erst hinkriegen soll: Wo laesst man die neurotische Angst, wenn sie erst einmal wieder aufgetaucht ist?

Und waehrend ich das schreibe, erscheinen zwei Buckelwale vor meinem Kabinenfenster. Sie blasen ein paar Mal, tauchen ab und wieder auf und zeigen bildermuchmaessig ihre Schwanzflossen.

Emma.
Du Arschloch.

PS: Weil jemand danach fragte: Emma war eine Canon EOS 600D. Als Standardobjektiv benutzte ich das Sigma 18-200.

Update 10. Februar: Emma ist aus ihrem Koma tatsächlich wiedererwacht und muss lediglich einige Dinge wieder erlernen. Die Uhrzeit vergisst sie ständig und ab und an fällt sie erneut in einen tiefen Todesschlaf, was ich auf den Schock zurückführe. Solcherart Unpässlichkeiten sind aber natürlich kein Problem, so unter Freunden.