Kindergarten im Kinderdorf Guarabira
Guarabira liegt im Bundesstaat Paraíba in Brasilien, mitten in der Mata Atlântica, im Atlantischen Regenwald, oder besser dem, was von diesem in Südamerika noch übrig geblieben ist. Allerdings ist die Gegend eher von Dürre geprägt, die manchmal viele Monate andauert. Es ist eine der ärmsten Gegenden Brasiliens, heißt es, doch was ist Armut?
In der Uni haben wir damals geforscht und diskutiert, über den Armutsindex der UNO, der sich häufig am Einkommen der Bevölkerung orientiert, über theoretische und sozialpolitische Ansätze, und letztlich die eigene Empfindung: Wer ist arm?
Lassen wir soziale Indikatoren außer acht und vergessen die relativen Messansätze, die auch „Armut“ in Deutschland definieren und beginnen ganz, ganz unten bei der „absoluten“ Armut: Arm ist der, der sich Grundbedürfnisse nicht oder kaum erfüllen kann: Sauberes Trinkwasser, genug Essen, ein Dach über dem Kopf, ein einigermaßen sicheres Umfeld, ein Klo, eine Familie, ein Arbeitsplatz, die Möglichkeit zum Waschen von Körper und Kleidung.
Ich habe den Eindruck, viele Menschen in Guarabira haben nichts von alldem, einige einen Teil, niemand hat alles. In Guarabira lässt sich kaum jemand nieder, der Geld hat; wer ein großes Haus bauen kann, traut sich kaum auf die Straße, denn Guarabira hat eine der höchsten Kriminalitätsraten des Landes.
Die Menschen, denen ich in der Stadt begegne, sind nicht die aus den Urlaubskatalogen.
Auf dem Markt schauen sie mich freundlich an, aber sehr verhalten.
Auf der Straße werde ich begutachtet, meine große Kamera herauszuholen traue ich mich kaum, tue ich es dennoch, springt sofort ein fürsorglicher Brasilianer heran und bedeutet mir, die Kamera wegzupacken, es sei hier zu gefährlich.
Englisch ist nicht sehr verbreitet in dieser Gegend, ich spreche kein Portugese. Die Schulpflicht wird häufig vernachlässigt, es geht ums Überleben. Nur wenige Familien sind intakt, der Mangel an Sicherheit in allen Lebensdingen macht häufig rauh, Alkohol tut sein Übliches im Vergiften des Friedens und missbraucht die Angehörigen, nicht nur psychisch.
Wer sich fragt, ob ich gerade ein einseitiges Bild zeichne: Das mag in Teilen so sein, ich hoffe es sogar, ich kann nur beschreiben, was ich erlebt habe. Die obigen Fotos habe ich beim Besuch eines „privilegierteren“ Bewohners Guarabiras gemacht: Er lebte eine Zeit lang in Deutschland, konnte dort lernen, hat nun eine Ausbildung und ist einer der wenigen mit einer festen Arbeit. Er gehöre zu den Reicheren hier, weil er eigene Hühner und Strom besitze, sagte man mir. Dennoch kann sich seine Mutter keine Seife für den Abwasch leisten und die Babysitterin wurde neulich in seiner Straße erschossen.
Die Geschichte des Kinderdorfes Guarabira
Pater Geraldo lerne ich am Flughafen kennen. Der Flugdienst Condor hat mich eingeladen, der Einweihung eines Kindergartens im Kinderdorf Guarabira beizuwohnen, der von ConTribute, dem sozialen Arm von Condor, und der Help Alliance, einem Zusammenschluss der Hilfsinitiativen der Lufthansa Group und Condor und mittlerweile unabhängig operierende NGO, unterstützt wird. Zu verdanken sind solche Aktionen den Mitarbeitern von unter anderem Condor, in diesem Fall Roy Heron, der sich vor Jahren in diese Gegend und die Menschen verliebt hat und fast seine gesamte Freizeit damit verbringt, Spenden aufzutreiben oder auch im Kinderdorf selbst anpackt. Condor Mitarbeiter können sich mit ihrem privaten Engagement bei ConTribute um Unterstützung für ihr Projekt bewerben. Bei Roy war die Unterstützung sicherlich keine Frage.
Das „Kinderdorf“ war nicht geplant, es entstand aus der Notwendigkeit und der Güte von Pater Geraldo, aber eigentlich begann alles mit einem Brief Ende der 80er Jahre.
Diesen erhielt Pater Geraldo, mit Namen eigentlich Gerd Brandstetter und seit vielen Jahren in Brasilien lebend, nach einem seiner Besuche im örtlichen Gefängnis. Dort saßen damals viele Straßenkinder ein, aus Mangel an Ideen seitens der Regierung, was man mit diesen Kindern sonst anstellen könnte.
Absender des Briefes ist Cicero, ein Straßenkind, das den Pater eindringlich bittet, ihm zu helfen. Familie außer einem Bruder habe er nicht, er sähe keine Chance für sich außer dem Pater.
Dieser ist von dem Brief so angetan, dass er vor Gericht die Verantwortung und Fürsorge übernimmt. Er bringt Cicero in einer Klosterbaracke unter, wenige Tage später wohnt dessen Bruder dort mit ihm. Nach kurzer Zeit spricht sich die sichere Unterkunft herum und es übernachten mehrere Kinder in der Baracke – die Idee entsteht, ein Kinderheim zu gründen.
Es dauert Jahre, aber durch die guten Beziehungen des Paters nach Deutschland und viele Bitten erhält der Pater mehrere großzügige Spenden, um ein Grundstück zu erwerben. Nach und nach entstehen die „Malocas“: einzelne Gebäude, in denen jeweils eine Gruppe Kinder und Erzieher untergebracht sind. Sie ersetzen die Familie.
Das Kinderdorf finanziert sich heute durch Spenden, die zu 80% aus Deutschland kommen. 1993 gründet der Pater den Verein „AMECC“ (Associação Menores Com Cristo, „Gemeinschaft der Kleinen mit Christus“), der vor allem in Deutschland Spenden sammelt. Mittlerweile gibt es eine Schule, in die auch Kinder aus der Stadt gehen, und seit neuestem einen Kindergarten.
Meine Ankunft im Kinderdorf
Auf dem mehrstündigen Weg halten wir mehrere Male, ich bewundere die Sonne und das Meer.
Im Dorf werden wir stürmisch begrüßt – die Kinder und Heimleiter haben eine ganze Empfangszeremonie vorbereitet, mit Musikkapelle, Luftballons, Chören. Die Kinderschar um Pater Geraldo verrät mir, dass er nicht einfach ein Pater ist, sondern vor allem ein Mensch mit einem großen Herz für Kinder.
Beim Mittagessen in einem der Malocas sitze ich neben Sebastian Haury, der mir – auf Deutsch natürlich – einiges über den Hintergrund der Kinder erzählt, mit denen wir am Tisch sitzen. Es fällt mir schwer, mir nichts anmerken zu lassen und weiter zu lächeln, so fürchterlich sind manche der Geschichten: Paulo*, ein kleiner Kerl, dessen Mutter Alkoholikerin ist. Francisco, der mehrfach missbraucht wurde. José, der mitansehen musste, wie der Vater die Mutter schlug, sie in den Brunnen warf, wo sie verhungerte.
Es ist kein Film, keine Zeitschrift, kein Buch, in dem ich von den Schicksalen lese, sondern diese Kinder sitzen direkt vor mir, und ich weiß nicht, ob mir jetzt einfach schlecht werden sollte oder ich weiter lächele und verdränge. Die Kinderaugen, die schon so viel Grausames haben sehen müssen, schauen mich mit erwartungsfrohen Augen an. Habe ich Geschenke dabei? Mache ich ein Foto von ihnen?
Ja, ich habe einen Rucksack voller Geschenke mitgebracht, eine Gemeinschaftsspende verschiedener Bloggerinnen.
„Pictscha, pictscha!“
Ich versuche, von möglichst vielen ein Foto zu machen, was natürlich nicht gelingt. Die blöde Sofortbildkamera, die ich extra gekauft habe, damit die Kinder die Fotos von sich auch behalten können, macht leider nicht mit und produziert nur grauen Matsch. Die Kinder reißen mir die Fotos trotzdem aus der Hand – eine Kamera ist eben der Hit.
Das Unglaubliche dabei: Die Kinder lachen mich alle an, sind fröhlich, möchten knuddeln und geknuddelt werden, sie haben überhaupt keine Scheu.
Ja, sie haben ihre Ausraster, erzählt Sebastian mir, selbstverständlich, nach all dem, was viele von ihnen erlebt haben. Ich frage, ob schon einmal ein Kind das Dorf verlassen musste, weil es vielleicht zu schwierig oder zu aggressiv gewesen sei. Nein, sie hätten in den ganzen Jahren seit Bestehen des Dorfes noch nie ein Kind aufgeben müssen – bis auf diejenigen, die gestorben sind. Diese liegen oberhalb des Dorfes begraben, auf einem Hügel, mit Blick über das Dorf und das Tal. Einige starben an Krankheiten, die Mehrheit jedoch gewaltsam auf der Straße.
In den kommenden Tagen werde ich noch weitere Geschichten erfahren. Manche Kinder haben noch Mutter und Vater, die aber nicht mehr in der Lage sind, sich zu kümmern. Einige wohnen hier nur zeitweilig, andere bleiben, sie sind vom Jugendamt überstellt, mit dem das Dorf zusammenarbeitet. Viele sind auch nur tagsüber da, sie können die Schule besuchen, mittagessen, spielen und abends bei Verwandten unterkommen.
Die Schule
Auf die Schule ist Pater Geraldo sehr stolz. Mittlerweile besuchen auch Kinder der Stadt die Schule.
Einige Kinder haben seit ihrem 8. Lebensjahr auf der Straße gelebt. Kann man so etwas fassen?
Es gibt einen Psychologen, der sein Bestes versucht, aber nicht für alle Kinder gleichzeitig da sein kann. Außerdem brauchen manche Kinder dringend eine Therapie. Sie werden einmal die Woche zu einem Therapeuten gefahren, der zwei Stunden entfernt wohnt.
Ich bin erstaunt, was man alles mit wenig Geld zustande bringen kann. Allerdings findet vieles ehrenamtlich statt und die Betreuer nehmen eine Menge auf sich: Sie schlafen abwechselnd mit den Kindern zusammen in den Malocas, häufig genug ist es ein 7-Tage-Job, auch nach „Feierabend“ haben sie für die Kinder ein offenes Ohr, denn schließlich ist das die Familie. Und auch wenn das kitschig klingt: Ich habe selten so viel Menschenliebe gesehen.
Erinnerungen
In Pater Geraldos Haus sind die Wände voll mit Erinnerungsfotos von den Anfängen des Kinderdorfes.
Auf meine Frage, wie er diese Armut, die Gewalt, die toten Kinder aushalte, sagt er: „Ich lebe mit viel Hoffnung“, aber ich sehe nicht nur einmal Tränen in seinen Augen.
Cicero, mit dem alles begann, starb mit 24, niedergeschossen auf der Straße, niemand weiß, wie es geschah, Pater Geraldo identifizierte ihn Tage später im Leichenschauhaus. Ciceros Bruder wurde wenige Jahre später in einer Kneipe erstochen. Es war eine Verwechslung.
*Alle Namen der Kinder geändert.
Weitere Infos:
- Pater Geraldo im Interview über die Geschichte des Kinderdorfes auf youtube
- Condor-Unterstützung für Kinder
- Wikipedia-Artikel über das Kinderdorf
- Brasilianische Seite des Vereins AMECC
- Spendenkontonummer bitte über die Facebookseite des Kinderdorfes erfragen oder auch über mich.
In eigener Sache: Ich danke Condor, die mich zu dieser Reise eingeladen und so geduldig auf diesen Artikel gewartet haben. Es fiel mir nicht leicht, ihn zu schreiben.
Seit 15 Jahren ist Inka Redakteurin, Reisebloggerin und Autorin in Berlin und Brandenburg. Sie hat mehrere Reiseführer über die Region geschrieben und veröffentlicht ihre Tipps und Geschichten im Spiegel, Tagesspiegel und verschiedenen Magazinen. Außerdem Möchtegernentdeckerin, Liebhaberin der polaren Gebiete unserer Erde und abschweifend in der Welt. Hier Chefin vom Dienst.