Im tiefsten Winter bin ich nach Nordnorwegen in die Finnmark gereist und habe dort eine Sami-Familie besucht, die noch heute Rentiere hält.
Natürlich haben es mir besonders die Rentiere und die Erzählungen über Rentierhaltung angetan, aber auch über die Veränderungen durch den Klimawandel haben wir gesprochen.
Wer sich wundert, warum die Fotos so blaustichig sind: Im Januar ist Polarnacht, die Sonne steigt also nicht über den Horizont in diesen Tagen. Ich habe versucht, die Farben etwa so darzustellen, wie sie wirklich waren.
So hell ist es nur knapp zwei Stunden am Tag, dann folgt schon wieder die Dämmerung. Ab 15 Uhr herrscht schon wieder finstere Nacht.
Rentierhaltung in Norwegen und Finnland
In Norwegen wird noch die traditionelle Rentierhaltung ausgeübt, das bedeutet: Die Tiere laufen frei umher und sind scheu, sie sind also keine gezähmten Streicheltiere, wie das in Finnland häufig der Fall ist – so die deutliche Ansage der Sami, die ganz offensichtlich der „neuen“ Rentierhaltung nicht sehr viel abgewinnen können. In Norwegen dürfen übrigens auch nur die Sami Rentiere halten, auch das ist in Finnland anders.
Wer sich übrigens fragt, warum hier nur von Norwegen und Finnland die Rede ist und nicht von Schweden, schaut mal eben auf die Karte und sucht nach der Finnmark, dem nördlichsten Bezirk Norwegens: Ich befinde mich hier auf 69° nördlicher Breite, da hat Schweden nichts mehr zu melden, denn das liegt viel weiter südlich.
Der Winter
Den Winter verbringen die Tiere hier in einem Gebiet ca. zwei Stunden südwestlich von Alta in der Kautokeino-Region. Sie sind an ihr Territorium gewöhnt, nur ab und zu wird mal von den Sami eingegriffen und sie werden mit Schneemobilen und Hunden zu einer anderen Ecke des riesigen Gebietes getrieben. Nils, der Same, zeigt mir auf einem Berg, wie riesig das Gebiet ist, das seit Jahrhunderten von seiner Familie mit Rentieren bewirtschaftet wird.
Von dem Problem der wärmeren Winter habe ich schon an anderer Stelle erzählt: Schmilzt der viele Schnee, gibt es unübliche Schmelzwässer, vor denen die Herden gerettet werden müssen. Zudem halten die vielen gefrorenen Gewässer nicht mehr, was die Tiere nicht gewohnt sind. Auf einer Tour mit dem Schneemobil fanden wir ein ins Wasser eingebrochenes und ertrunkenes Rentier.
Noch dramatischer ist es, wenn nach der Schmelze noch einmal Frost eintritt. Schnee graben die Rentiere normalerweise weg und finden darunter ihr Futter. Wird der Boden aber mit einer dicken Eisschicht überzogen, ist die Nahrung unerreichbar. In solchen Jahren muss Nils zufüttern, und auch dann reicht es häufig nicht und die Tiere verhungern.
Nils ist viel in der Hütte im Winterquartier, denn er muss möglichst täglich nach den Rentieren schauen. Seine Frau, die Lehrerin ist, lebt mit den Kindern innerhalb der Woche im etwa zwei Stunden entfernten Kautokeino, wo die Kinder auch zur Schule gehen.
Der Sommer
Im Sommer werden die Tiere an die Küste getrieben, denn die ist fruchtbarer. Anders als früher werden heute die vorgelagerten Inseln genutzt. Die Rentiere von Nils und seiner Frau Oddbjørg verbringen den Sommer über auf Sørøya, der größten Insel der Finnmark.
Wer sich jetzt fragt, wie die Rentiere dorthin kommen: Sie fahren mit der Fähre. ;) Ich habe Fotos gesehen, würde das gerne aber mal live sehen.
Die Sami, Traditionen und Globalisierung
Die Sami besitzen das Land übrigens nicht, sondern haben Nutzungsrechte. Das ist der Versuch der norwegischen Regierung, zwischen Wiedergutmachungsansprüchen und norwegischen und samischen Interessen zu vermitteln. Die Sami haben – wie so oft in der Geschichte anderer Völker – sehr unter den „neuen“ Völkern gelitten. Bis weit in das 20. Jahrhundert Jahre wurden sie umgesiedelt, Sprache und Traditionen waren verboten. Dazu aber ein anderes Mal mehr.
Die Rentiere bekommen keine Namen. Die Sami haben ein enges Verhältnis zu ihren Tieren, denn diese ernähren und kleiden sie und sind stark mit ihrer Kultur verknüpft, aber das ist eher ein abstraktes enges Verhältnis, so habe ich es verstanden. Zu einzelnen Tieren haben sie keine direkte Bindung.
Einmal im Jahr werden die Jungtiere dann am Ohr gekennzeichnet und ein Teil der Herde getötet. Verwertet wird quasi alles: Das Fleisch wird gekocht, geräuchert, gesalzen und kommt zu jedem Anlass auf den Tisch (und ich muss zugeben, ich fand es irre lecker). Aus dem Fell werden Kleidungsstücke wie Schuhe, Handschuhe, Hosen und Umhänge gemacht.
Das Horn wird nach China verkauft, dort herrscht heute ein fast gleich großes Verlangen nach Rentierhorn wie nach Nashorn – aus welchem Grund ist vermutlich jedem klar. Mich beschleicht die Frage, ob die Sami auf diese Weise eventuell das ein oder andere Nashorn vor Wilderern retten – Globalisierung in ihrer schrägsten Ausprägung.
Die Kinder wachsen hier in einer für mich seltsamen Zwischenwelt auf: Einerseits erfahren sie unmittelbar die Natur, bei Minus 20 Grad halten sie sich hinten auf dem Schlitten fest oder lernen, wie man Rentiere mit dem Lasso einfängt und möglichst schnell und schmerzlos tötet. Andererseits wachsen sie natürlich selbstverständlich mit coolen Motorschlitten und Handys auf. Sie tragen Rentierfellhosen und modernstes Outdoorequipment.
Rentiere im Schneegestöber
Hier im Nirgendwo gibt es schon seit Stunden keine Straßen mehr, die Gegend ist nur mit dem Motorschlitten befahrbar.
Nils füttert die Tiere mit leckerem Heu an, damit sie etwas ihre Scheu verlieren und näher kommen und ich Fotos machen kann. Währenddessen beginnt es zu schneien.
Ich gebe zu, ich bin zuerst ein bisschen traurig, dass ich in den fünf Nächten, die ich insgesamt in der Finnmark verbringe, keine Polarlichter und nicht diesen wunderschönen zartrosa Himmel sehe, weil das Wetter einfach nicht mitspielt und es immer grau-in-grau ist, aber wenn ich mir die Bilder der fast wilden Rentiere anschaue mitten im Schneegestöber, finde ich das eigentlich umso realer. Tolle, wunderschöne Tiere.
Ich bin auf eigene Faust nach Nordnorwegen gereist, Nils hat mich netterweise für drei Nächte in seine Hütte und zu den Rentieren eingeladen. Herzlichen Dank dafür. |
Seit 15 Jahren ist Inka Redakteurin, Reisebloggerin und Autorin in Berlin und Brandenburg. Sie hat mehrere Reiseführer über die Region geschrieben und veröffentlicht ihre Tipps und Geschichten im Spiegel, Tagesspiegel und verschiedenen Magazinen. Außerdem Möchtegernentdeckerin, Liebhaberin der polaren Gebiete unserer Erde und abschweifend in der Welt. Hier Chefin vom Dienst.