Coronatagebuch 1: Homeoffice Tag 1

Seit heute ist meine Abteilung im Homeoffice. Ich fühle mich privilegiert, habe ich doch so gut wie keine Einbußen im Leben: Die Kids vom Mann sind alle groß und selbständig, unsere Eltern verständig, dass sie besser Zuhause bleiben, ich kann im Homeoffice meine Brötchen weiter verdienen, der Mann ebenfalls, und falls eine Ausgangssperre droht, können wir im Garten des Mannes unsere Runden drehen (ja, wir haben immer noch offiziell getrennte Lebensräume, ich die kleine Wohnung in Schöneberg, er das Haus mit Garten südlich von Berlin).

Die Apocalypse habe ich mir anders vorgestellt.

Die letzten Tage kann ich kaum zusammenfassen, die Informationen kamen zu schnell, zu stündlich, Schlag auf Schlag, und auf einmal sickerte letzte Woche, während ich selbst krank im Bett lag, auch bei mir die Erkenntnis durch, dass wir es hier nicht nur mit einer Notlage zu tun haben, sondern mit einem bleibenden, lebensverändernden Einschnitt für uns alle. Eine seltsame Mischung aus Angst und Adrenalinkick, Bedauern, Sorge und Erleichterung macht sich in mir breit, Gefühle, die in dieser Kombination absolut neu für mich sind.

Ausnahmezustand

Heute ist der 17. März, das Auswärtige Amt hat eine weltweite Reisewarnung herausgegeben. Seit 6 Tagen herrscht in Italien der Ausnahmezustand, es fühlt sich bereits an wie eine Ewigkeit.
Als die ersten Nachrichten über das neuartige Virus aus China eintrudelten, das erste Mal von einer möglichen Pandemie die Rede war, wirkten die möglichen Szenarien noch weit weg. Erst als aus der Lombardei Berichte durchdrangen, dass in den überforderten Krankenhäusern nun ausgewählt werde, wer eine Behandlung bekommt und wer nicht, war klar: Die Pandemie hat uns erreicht, es ist dringend Zeit zu handeln, denn unsere Kapazitäten werden nicht reichen.
Wir stehen in der Entwicklung etwa 9 Tage hinter Italien, sitzen nun Zuhause und harren der Dinge. Surreal.

Der Dax ist in den Keller gerauscht, die Schulen und Kitas geschlossen, ebenfalls seit heute müssen viele Läden, die nicht für das tägliche Leben erforderlich sind, schließen, Österreich, Italien und Spanien haben Ausgangssperren erlassen, Gottesdienste und Beerdigungen sind verboten, und während ich das schreibe, kommt es mir vor, als hätte ich das schlechteste Drehbuch der Welt entworfen.
Ich mache mir Sorgen um immungeschwächte Familienmitglieder und meinen herzkranken Vater und hoffe gleichzeitig, dass die Nachrichten stimmen, 80% der Infektionen würden so mild verlaufen, dass Infizierte teils nicht einmal realisieren, dass sie Covid-19 erkrankt sind.
Letzte Woche hatte ich sehr trockenen Husten, war müde und hatte Durchfall. Drei der angeblich vier wichtigsten Symptome der Erkrankung. Hatte ich das Virus bereits? Ich nutze in Berlin die öffentlichen Verkehrsmittel – habe ich mich dort angesteckt? Es gibt keine Möglichkeit zu testen, ich werde es nicht wissen. Und dieses Nicht-Wissen ist unangenehm.

Ich denke daran, wie es in einem halben Jahr sein wird, oder in einem Jahr. Werden wir uns dann großflächig auf Antikörper testen lassen können, um zu wissen, ob wir eine gewisse Herdenimmunität erreicht haben? Oder wird es doch, wie das Robert-Koch-Institut heute verkündete, bis zu zwei Jahre dauern?

Wie lange?

Viele Menschen denken offenbar immer noch, in wenigen Wochen sei alles vorbei. Regierungen und Epidemiologen halten solche Informationen etwas hinter dem Berg, was vermutlich gut ist. Würden die meisten heute schon realisieren, dass wir es hier vermutlich mit einem Ausnahmezustand für die nächsten 1-2 Jahre zu tun haben. Wie sollte es auch anders gehen?

Es geht ja nicht nur darum, die Kurve abzuflachen, #flattenthecurve, damit immer nur so viele erkranken, wie das Gesundheitssystem verkraften kann. Es geht vor allem auch darum, soweit ich das verstanden habe, dass unser System auf so viele (schwer) Erkrankte ohnehin nicht vorbereitet ist und wir versuchen müssen, die Kurve so weit nach hinten zu verlagern, bis Therapien erfunden sind. Für einen Impfstoff dauert das sowieso zu lange, denn dieser wird vielleicht bald erfunden, muss aber in der Regel noch 6-10 Monate lang getestet werden, bis er zugelassen wird. Man hofft also auf eine Therapie, um die 20 Prozent schwer Erkrankenden behandeln zu können. Bis zu dieser Therapie werden Monate vergehen – vermutlich.

Solidaritäten

Großbritannien geht derweil einen anderen Weg und schließt erst einmal keine Schulen und Geschäfte, denn die Menschen würden das nicht lange mitmachen, sagt Johnson. Deshalb schreiten sie erst ein, wenn die Kurve nach oben geht. Johnson wird deshalb von Wissenschaftlern, Epidemiologen und im Land scharf kritisiert. Natürlich, er gibt bereits jetzt auf, die Schwächsten retten zu wollen und spielt ein bisschen Darwin.
Und doch frage ich mich: Wie lange werden die Menschen das hier in Deutschland mitmachen? Mit der Ausgangssperre rechnet gerade jede:r, weil die Cafés voll sind und die Leute „Coronaparties“ feiern – kein Einsehen, meinen viele. Ich musste gestern noch einmal zur Arbeit fahren und habe da anderes wahrgenommen. Ja, die Leute gehen im Park spazieren (sehr gut! Frische Luft ist die beste Stärkung für das Immunsystem!), einkaufen, weil sie es müssen, und fahren U-Bahn. Aber sie halten größtmöglichen Abstand. Der Tagesspiegel bemängelt Leute, die im Café sitzen, dabei sitzen sie weit voneinander entfernt. Ist es nicht das, was uns auf Dauer retten kann? Genügend physikalischen Abstand und eben dennoch social, weil wir nunmal soziale Wesen sind? Müssen wir nicht lernen, uns im Alltag entsprechend zu verhalten, statt jetzt alles herunterzufahren? #PhysicalDistance statt #SocialDistance?

Lediglich ein Idiot hat mich absichtlich von der Seite angehustet, als er mich vermummt im Wollschal sah.
Aber ja, natürlich gibt es offensichtlich immer noch viele, die davon labern, sie seien ja nicht in der Risikogruppe und könnten ergo Party machen gehen. Die eigenen Eltern & Großeltern? Egal. Alte Leute, die man beim Einkauf berührt? Egal.
Aber es gibt auch wahnsinnig viel Einsehen, und Solidarität, Einkäufe für Nachbarn, Ideen, wie man Freiberuflern und Kreativen über diese Zeit helfen kann.

Sicher ist wohl jetzt schon: Es wird nachhaltig unsere Welt verändern, selbst wenn wir das Virus entgegen aller Unkenrufe gut besiegen können. Viele Menschen werden arbeitslos, Unternehmen werden schließen, manche sagen, die Rezession sei unausweichlich. Mir ist komisch im Magen.

Die Hoffnung

Immerhin: Die vielen Nazistimmen in meiner Twitterbubble sind verstummt, das ist erleichternd. Ja, sie labern noch, aber niemand hört ihnen mehr zu. Endlich eine Pause von diesem rechten Müll.
Überhaupt eine Pause: Als ich vor drei Monaten mein Couch-Jahr ausrief, konnte ich nicht wissen, dass es ein Couch-Jahr für alle werden würde. Dabei begann meine Auszeit bis jetzt gar nicht, Projekte waren viel umfangreicher als geplant, ich arbeitete weiterhin täglich und brauchte doch so dringend eine Pause. Die Pause kommt jetzt und für alle, alle meine selbständigen Projekte liegen auf Eis. Natürlich bedeutet das starke finanzielle Einbußen und wenn ich richtig Pech habe, habe ich zwei Bücher für nix geschrieben. Das ist blöd, aber nicht lebensbedrohlich, und es wird mich auch in keine Krise stürzen.

Wir haben schon jetzt beschlossen, dass wir unser tägliches Homeoffice für eine Stunde Gartenarbeit unterbrechen werden, um an der frischen Luft zu sein und uns endlich wieder um den Garten zu kümmern.
Familien werden vielleicht nicht nur gestresst sein, sondern sich selbst wieder entdecken. Menschen werden einen ruhigeren Takt finden, nachdem sich der Alltag immer und immer schneller drehte. Menschen werden feststellen, dass sie absolut überflüssiger Arbeit nachgegangen sind und Sinn in ihrem Tun suchen. Ohnehin wird überflüssiger Ballast abgestreift werden. Vielleicht kehren viele Menschen nicht nur aufgrund von Pleiten, sondern auch ganz freiwillig nicht mehr in ihren Job zurück. Vielleicht wird es in einem halben Jahr aus Gründen der Zweckmäßigkeit ein Grundeinkommen geben. Vielleicht überdenken wir viel früher als es sonst der Fall gewesen wäre unser Wirtschaftssystem. Der französische Präsident Macron hat bereits eine Rede gehalten, in denen er das angedeutet hat.
Vielleicht machen Kriege eine Pause, vielleicht werden Populisten als das entlarvt, was sie sind: Bullshit-Prayer.
Nicht zu vergessen: Die Umwelt freut sich jetzt schon über drastisch weniger Flüge, Kreuzfahrten, Verkehr. Schon jetzt ist die Luft in China viel besser. Und vielleicht können wir uns ein bisschen Krisen-bewappnen. Denn die Klimakrise ist nicht mehr aufzuhalten, trotz allem. Vielleicht können wir uns darauf besinnen, was wirklich wichtig ist.

Hauptsache, das Internet hält durch.

Was wird nächste Woche sein? Was in einem Monat? Was in nächstem Jahr? Auch dafür schreibe ich dieses #Coronatagebuch.

PS: Mein Arbeitstag war übrigens heute nur zwei Stunden lang. Das VPN war überlastet.

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