Derzeit versuche ich, andere Wege im Umgang mit dieser Krise zu finden, denn ich habe das Gefühl, ich trete nicht nur auf der Stelle, sondern es geht mir psychisch schlechter. Und da ich Kopf-Mensch bin, habe ich im Internetz stundenlang über Bewältigungsstrategien nachgelesen.
Krise leitet sich vom griechischen Wort für „Entscheidung“ ab. Ursprünglich im medizinischen Kontext gemeint, also wenn ein Zustand zum Beispiel lebensbedrohlich wurde und sich entschied, ob ein Mensch überlebt oder nicht, kann man den Begriff heute semantisch weiterfassen und umdeuten: Eine Krise ist also auch das, was wir aus ihr machen, und das trifft wohl besonders auf diese Corona-Pandemie zu.
Wie nennt sich wohl meine Krisenbewältigungsstrategie, die sich stets die pessimistischsten Voraussagen reinzieht, um sich dann vorbereitet zu fühlen?
Tatsächlich lerne ich beim Recherchieren, dass das eine gar nicht so blöde Strategie ist, um resilient die Krise zu überstehen und sogar auf neue Krisen besser vorbereitet zu sein. Ist also der Pessimist gar schlauer als der Augen-zu-wird-schon-nicht-so-schlimm-werden-Optimist?
„Negative Fähigkeit hat jemand, der zwischen Unsicherheiten, Geheimnissen und Zweifeln ausharren kann, ohne sich zu einer erregten Suche nach Fakten und Gründen gedrängt zu fühlen“, lese ich einen der Psychoanalyse viel zitierten Ausspruch von John Keats.
Tja, wenn das so ist, hab ich wohl keine negative Fähigkeit. Ich bin derzeit süchtig nach Coronafakten und Daten.
Wiederum wies Richard Lazarus bereits in den 60er Jahren in Experimenten nach, dass das Nachdenken und damit zusammenhängende Erkenntnisse und Bewertungen über Situationen die Intensität von Emotionen, in diesem Fall die Stressbewältigung während einer Krise, reduzieren. Damit kann ich mich gut identifizieren.
Klar ist: Da ich die Krisenaspekte, also die Situation nicht ändern kann, muss ich meinen Umgang mit ihr ändern.
Der Krisen- und Katastrophenhistoriker Gerrit Schenk sagt: „Eine Gesellschaft bleibt friedlicher, wenn sie partizipativ strukturiert ist – wenn die Menschen das Gefühl haben, teilzuhaben und nicht machtlos zu sein. Demokratien sind nach innen friedlicher, weil es weniger Möglichkeiten der Unterdrückung gibt. Das ist Orientierungswissen – es ist zwar abstrakt, aber anwendbar (auf neue Krisen).“
Womit ich wieder bei den vorgestern beschriebenen demokratischen Grundrechten bin. Vielleicht ist das tatsächlich der Punkt, der mich derzeit so in Unsicherheit stürzt. Meine Basis, mein tiefer Glaube an unsere Demokratie, gerät ein wenig ins Wanken. Ich habe Angst, dass sich Grundwerte dauerhaft verschieben und es immer weiter geht mit vereinfachenden Sichtweisen.
„Während der kleinen Eiszeit beispielsweise, etwa vom 14. bis ins 17. Jahrhundert, kam es zu Hexenverfolgungen als Reaktion auf schweren Hagel. Man warf den Frauen und Männern Wetterzauber vor. Dieser natürliche Klimawandel führte zu einer Verfolgung von Randgruppen. Das warnt uns vor der Suche nach einem Sündenbock. Das ist Orientierungswissen„, erklärt Schenk weiter, und warnt außerdem vor monokausalen, unterkomplexen Lösungen.
Mir würde ja gerade schon eine komplexe Lösung reichen.
Die Krise als Chance begreifen, wird außerdem häufig geraten, denn ohne Krisen gäbe es keine gesellschaftlichen Entwicklungen, doch das ist natürlich in Bezug auf meist individuelle oder stark eingegrenzte Krisen (wie die Finanzkrise) gemünzt. Ich weigere mich, diese Ansicht auf die derzeitige Situation anzuwenden im Angesicht einer vermutlich extrem hohen Anzahl an Toten mit all den sekundären Opfern, die das zusammenbrechen gesellschaftlicher, systemischer und wirtschaftlicher Strukturen außerdem noch geben wird – das empfände ich als krass unethisch.
Ja, es geht darum, diese Unsicherheit auszuhalten. Ich habe noch keinen Weg für mich gefunden, mit dem ich monatelang leben kann. Für Kierkegaard, der an beständige Unsicherheit des Lebens mit einem unzerstörbaren Sinn glaubte, wäre die Antwort wohl der Glaube gewesen. Gott als unveränderlicher Grund unserer Freiheit. Was ich vor meiner Recherche nicht wusste: Kierkegaard ist Zeit seines Lebens nur in sein eigenes Innere gereist. Drei Reisen nach Berlin – das ist das einzige, was er neben seiner Heimatstadt Kopenhagen von der Welt gesehen hat.
Es ist übrigens durchaus ziemlich skurril, verschiedene Interviews der letzten Jahre mit Psychologen über Krisenbewältigung zu lesen, denn in keinem einzigen Interview konnte sich jemand vorstellen, dass eine grundlegende, gesellschaftliche Krise auf uns Mitteleuropäer zukommt.
Outro
Das war jetzt sehr lang und leider nur so mittelerhellend, sorry. Deshalb nur noch zwei kurze Anmerkungen:
Morgen unbedingt Radioeins hören, denn die spielen den ganzen Karfreitag „Emotional Rescue Songs für die Seele“ und haben schon ihre Hörer:innen befragt.
Von guten Mächten wunderbar geborgen…
Mein Trigger-Song. Ich brauche nur diese halbe Zeile hören und die Schleusen öffnen sich.
Heute vor 75 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg ermordet.
Heute mal eine ausführlichere Auflistung einiger Covid-19-Infizierten-Zahlen verschiedener Länder: Deutschland: RKI: 108.202, das sind leider doch wieder fast 5000 mehr als am Vortag. Johns Hopkins: 115.532 Weltweit: 1.582.904 Zu den Zahlen: Die Johns Hopkins nutzt keine zentralen nationalen Organe, um bestätigte, verifizierte Zahlen wie jene vom Robert-Koch-Institut zu veröffentlichen, sondern nutzt Zahlen aus diversen Stellen. Das hat einerseits zur Folge, dass die Zahlen häufig realer sind, da sie z.B. aus Laboren stammen, die ihre Zahlen offiziell noch nationalen Stellen übermitteln müssen, was einen Tag dauern kann. Andererseits kann es vorkommen, dass Fälle doppelt gezählt werden. |