In der 9. Klasse bekam ich eine 4 in Geschichte, die aus meinem normalerweise guten Zeugnis (neben der ewigen bescheidenen Mathe-Zensur) ziemlich herausstach. Ich ärgerte mich, konnte aber nichts dagegen sagen, denn die Zensur spiegelte mein Problem mit diesem Fach wider: Es war mir zu komplex, den roten Faden hatte ich nie gefunden, was durch die interessante Themenwahl der Fachkonferenz an meinem Gymnasium noch unterstützt wurde: Die alten Griechen – Drittes Reich – Mittelalter – Französische Revolution (spätestens jetzt war ich irgendwie durcheinander) – Weimarer Republik – Industriealisierung – Reformation – Drittes Reich…

Dabei wollte ich so gerne; ich wollte verstehen und schlau sein und die Geschichte der Welt erzählen lernen, wie mein Opa das so toll konnte. Ich wollte politisch Gesicht zeigen, mich positionieren wie jeder anständige 80er Teenie, war ab der 8. Klasse in der feministischen Frauengruppe und im antifaschistischen Jugendhaus der Stadt zu finden, wollte in die Fußstapfen meiner Eltern treten, die mich gelehrt hatten, dass wir uns politisch engagieren müssen, um die Welt ein bisschen besser zu machen, und dass das nicht geht, wenn man nur dummes Zeug redet und keine Ahnung hat. Vor allem wenn man keine Ahnung von der Geschichte unserer Gesellschaft hat.

Herbert Chall, 1930er
Mein Großvater in den 30er Jahren, Herbert Chall.

Das erste Mal verstanden, dass Geschichte und Erinnerung eine symbiotische Einheit beim Spinnen des roten Fadens jeder Gesellschaft sind, ohne gradlinig sein zu müssen, habe ich erst im Studium: Durch verschlungene Wege landete ich beim Afrikawissenschaftlichen Institut in Berlin und entdeckte bald meine Leidenschaft zur Afrikanischen Geschichte. Hier konnte ich endlich von vorgeblich außenstehender Seite aufrollen, was die deutsche Geschichte gewesen war und heute ist. Hier setzte ich mich mit meiner eigenen Geschichte auseinander um zu verstehen, wie Rassismus funktioniert, ob ich sauer sein darf, wenn man mir eben jenen vorwirft, wenn ich mich im amerikanischen Schulbus vorne in die erste Bank setze; wohin meine Überzeugungen zeigen, wo der Unterschied ist zwischen Grübeln, Denken und Träumen, was ich erinnere und was das über mich aussagt, sprich, wer ich eigentlich bin und was meine Geschichte ist.

Ich bin trotzdem nie wirklich gut in politischer Geschichte geworden, auch in Geografie bin ich immer noch eine ziemliche Niete, weil es mir schwerfällt, Verknüpfungen zu schaffen, die scheinbar zu weit entfernt von meinem persönlichen Leben sind.

Aber es fällt mir heute leichter, für mich zu akzeptieren, dass ich keine großartige politische Geschichtenerzählerin bin (und auch nur begrenzte Kraft für politisches Engagement aufwenden möchte). Ich weiß aber, dass ich tausendundeins Geschichten in meinem Kopf habe, die Zuhörer genauso fesseln können, wenn ich nur lerne, sie gut zu erzählen, und die auf ihre eigene Weise Einfluss nehmen können auf kleine Ecken in der Welt. Deshalb möchte ich Geschichtenerzählerin sein.

Wohnzimmergeschichten

Sie handeln nicht immer von mir, aber sie handeln immer von meinen Erinnerungen und Erfahrungen und meiner Kreativität und meiner Fantasie, von meinen Farben und von dem Gelernten, was andere interessiert und vor allem: was andere emotional packt. Ich habe gelernt, dass eine Geschiche nur gut ist, wenn der Zuhörer wenigstens einmal dabei an sich selbst gedacht, einmal gelächelt oder einen kleinen bohrenden Stich verspürt hat. Wenn eine Verknüpfung entstehen konnte von meiner Geschichte zu seiner.

Was das letztendliche Geheimnis ist um die Kunst, aus einer Begebenheit eine packende, in Erinnerung bleibende Geschichte zu machen, wird mir allerdings immer ein Mysterium bleiben. Wer erinnert sich nicht an den roten Mantel des kleinen jüdischen Mädchens im sonst schwarz-weiß gehaltenen Film Schindlers Liste, der am Ende auf einem Karren lebloser Körper im Hintergrund vorbeigeschoben wurde. Die Geschichte des roten Mantels hat ganz ohne Worte die bodenlose Grausamkeit des nationalistischen Deutschlands besser erzählen können als alle Dialoge des Films.
Warum? Ich habe keine Ahnung, aber ich versuche, das herauszufinden, denn ich möchte Geschichten erzählen, mit meinen Worten, mit meinen Bildern.

Magnolien
Bilder erinnern und erzählen. Nicht immer, nicht für jeden.

Der Fotograf Joel Sartore erzählt wunderbare Geschichten mit seinen Fotos. Erzählenderweise im Video fesselt er mich mindestens genauso und sagt selbst: I am a storyteller.

Wer sagt, die Welt sei schlecht, sollte anfangen, die erzählten Geschichten der Welt zu zählen. Ich bin sicher, dass die Anzahl das Gegenteil sagen würde, denn echte Geschichten werden immer mit Herz erzählt. Erst, wenn es keine Geschichten mehr auf dieser Welt gibt, ist dies eine Welt ohne Herz.

Dieser Post ist ein Beitrag zur Blogparade „Are we all storytellers?“. Mehr auf reichweite-beratung.de.