Ich hätte nie geglaubt, dass ich mal in die rechte Ecke gestellt werde, weil ich mir Gedanken um die Beschneidung von Bürgerrechten mache. Und da spreche ich nicht von Pflichtimpfungen oder dass ich mir „in Berliner Clubs die Nächte um die Ohren schlagen“ will. Ist es so schwierig, zwischen den Dingen zu unterscheiden und sich andere Lebensrealitäten vorzustellen? Den Sterbenden im Krankenhaus, die alleinerziehende Mutter, die arbeiten und Kinder betreuen muss, den depressiven Vater, der nicht mehr von den Kindern besucht werden darf.

„Ach die Almans“, witzelte jemand auf Twitter, „die müssen immer genau wissen, was erlaubt ist und was nicht.“
Nunja. Nicht jede:r hat das Glück, so viel Geld in der Tasche zu haben, um mal eben das Bußgeld rausrücken zu können. Und nein, ich habe auch absolut keine Lust, in der Rubrik „Straftäter“ aufzutauchen. Ja, Straftäter. So nennt jedenfalls die Berliner Polizei und Radioeins Leute, die gegen eine Beschränkung verstoßen haben.

Echt jetzt?

Wie bestimmte Lockerungen aussehen sollen? Nein, ein Patentrezept habe ich da logischerweise auch nicht, so wie niemand von uns. Aber ist es wirklich so unglaublich, sich vorzustellen, dass manche Beschränkungen manche Menschen extrem hart treffen? Und ist es auch so unglaublich, dass manche Beschränkungen für andere Zwecke missbraucht werden können? Insbesondere in Gegenden, wo, nunja, eine gewisse Partei ohnehin kein Interesse an demokratischen Diskursen hat?
Habt Ihr, die ihr alle in einen Topf werft, mitbekommen, dass in mittlerweile fünf Bundesländern Corona-Infizierte und deren Kontaktpersonen in Fahndungslisten der Polizei zu finden sind?

Ist es wirklich zuviel verlangt, zwischen „Nazis“, „Verschwörungstheoretikern“ (auch wenn sie sich häufig überschneiden, ist es dennoch absolut fatal, Verschwörungstheoretiker „Nazis“ zu nennen; damit bekämpft man keine Ursachen, man zeigt nur polemisch mit dem Finger!) und denjenigen zu unterscheiden, die die Beschränkungen ob ihrer Notwendigkeit genauer unter die Lupe nehmen, um hier Lösungen zu finden – für diejenigen, die derzeit sehr leiden, Eltern z.B., die langsam am Stock gehen, Für Kinder, für diejenigen, die sich Sorgen um Bürgerrechte machen, zum Beispiel um den Missbrauch von Daten?

Und zwar andauernd und stetig, mit immer neuen Beschränkungen, neuen Lockerungen, Änderungen, Ideen.

Ja, ich weiß, dieses ständige vorwärts, rückwärts, seitwärts, rechtslinks ist für viele schwer auszuhalten, aber genau darum geht es beim Hammer & Tanz: Nicht allein um die Rettung von Covid-19-Patienten, sondern eben auch um die Rettung der Gesellschaft. Und hierbei gilt es, wie Merkel so schön sagt, „auf Sicht zu fahren“.
Bei unglaublich vielen meiner Social Media Kontakte sehe ich dieses Vermischen und Simplifizieren in einer gruselig krassen Weise. Bei so vielen, dass ich einige Tage darüber nachdachte, was mit mir nicht stimmt.

„Ach, Du bist auch so eine, die rumjammert? Was ist denn das Problem, mal ein paar Wochen Zuhause zu bleiben? Du machst Dir Sorgen, hahaha, welche Verschwörungstheorie kommt denn da gleich?“

Echt jetzt?

Nennst Du Juli Zeh auch eine Verschwörungstheoretikerin?

Nein, ich habe nach ein paar Tagen beschlossen: Mit mir ist alles in Ordnung. Gruselig finde ich allerdings, dass ich jetzt auch noch Schäuble zitiere. Es gibt sicher ähnliche Aussagen von Politiker:innen von der SPD und den Grünen. Tatsächlich bin ich derzeit ziemlich beruhigt, wenn ich unsere Politiker:innen „aus der Mitte“ höre, denn da höre ich viele Grautöne und derzeit wenig Polemiken – einschlägig bekannte Abgeordnete ausgenommen.

Schäuble jedenfalls sagte es gestern oder vorgestern so zitatreif:

„Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen, das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.“

Er meinte damit auch die Rechte, die Menschen haben, in Würde ihre letzten Lebensjahre und gar ihre letzten Tage zu verbringen. Er meinte auch die psychischen Folgen, die die Beschränkungen mit sich bringen. Und ja, er meinte auch die Wirtschaft.

„Armut tötet“, könnte man es auf den etwas polemischen Punkt bringen, aber es gibt jemanden, der das weitaus besser ausgedrückt hat: Dirk Steffens, Journalist und Dokumentarfilmer. Sein Appell auf Facebook:

„Natürlich ist der erste Impuls zu sagen, Menschenleben sind immer das Wichtigste. () Aber Wirtschaft bedeutet () ja auch, dass wir Arbeit haben, () dass wir unsere Miete bezahlen können, dass wir Strom und fließendes Wasser haben, dass wir in den Supermärkten genug Waren vorfinden, dass wir nicht hungern. Dass wir Ärzte, Krankenschwestern, Feuerwehrmänner und all diejenigen, die uns durch diese Krise bringen (), dass wir die überhaupt bezahlen können. Dass wir uns Schutzmasken, Antikörpertests, Krankenhäuser () und die Forschung an neuen Impfstoffen überhaupt leisten können, auch das ist Wirtschaft.“

Und dabei, um es noch einmal zu betonen, geht es nicht darum, jetzt blind irgendwelche Beschränkungen aufzuheben, sondern eben getreu dem „Hammer & Tanz“ sehr genau zu überlegen, welche Maßnahmen erforderlich sind, welche vielleicht nicht, und welche Maßnahmen getroffen werden können, um Dinge zu ermöglichen. Kitas zum Beispiel – mir ist persönlich immer noch überhaupt nicht klar, warum es nicht möglich ist, kleine Kitagruppen zuzulassen, wo kein Austausch mit vielen anderen Kindern stattfindet (wie das zum Beispiel in der Schule der Fall ist).
Und: Wir öffnen die Schulen, aber Familien dürfen sich immer noch nicht besuchen, nicht mal im Garten / auf der Straße sitzend, Kranke und Alte bleiben alleine? (Oder ist davon etwas wieder aufgehoben worden? Ich habe etwas den Überblick verloren.)

Immerhin: Der Volksverpetzer schafft es, diejenigen, denen die Einschränkungen von Grundrechten Sorgen machen, nicht mit Nazis und Verschwörungstheoretikern gleichzusetzen.
ABER WEHE, EUCH GEHT ES SCHLECHT, OBWOHL IHR WEDER GESUNDHEITLICH NOCH FINANZIELL AM BODEN LIEGT!
Weil, Jammern ist nicht, Freundinnen und Freunde! Empathielosigkeit rules! Oder bist Du etwa auch so ein ätzendes weinerliches Etwas, dem die Bilder aus der Welt nicht mehr aus dem Kopf gehen oder fühlst gar mit denjenigen, die im Krankenhaus alleine sterben müssen? Oder hast gar ein paar depressive Gedanken? WAS BIST DU DENN FÜR NE LUSCHE?

Echt jetzt?

Seit wann ist Empathie eigentlich so zum Unwort geworden? Seit wann sind aus meinen Lieblingsblogs und Zeitungen die Grautöne verschwunden und Schwarz-Weiß ist das neue Pink?

Sich anhören zu müssen, was für ein Oberegoist man sei, weil es einem schlecht geht – wow. Weil man ahnt, wie viele Menschen in Regionen nun zusätzlich hungern müssen, für die wenigstens die Nahrungsbeschaffung vor kurzem noch möglich war, oder wieviele sterben müssen, einfach, weil sie Arm sind und ihnen Corona nun die letzten Überlebensmöglichkeiten nimmt. Weil man sich fürchtet vor dem, was da in den nächsten zwei Jahren noch – global gesehen – auf uns zukommt. Denn machen wir uns nix vor: Nur weil wir Deutschen hier vermutlich an der Zapfsäule für den Impfstoff sitzen werden, heißt das nicht, dass der letzte Hinterwinkel Tanzanias oder Boliviens zur gleichen Zeit geimpft wird.
Weil man Sorgen hat, dass die Bekämpfung der Klimakrise wohl ins absolute Hintertreffen gerät. Und nein, das eingesparte CO2 durch weniger Flugverkehr birgt leider absolut keine Lösung, es sind die wichtigen Änderungen, die eigentlich jetzt fortschreiten müssten, der Umbau der Energiewirtschaft, Förderungen nachhaltiger Wirtschaftsanlagen, Änderungen bei Subventionierungen, nur fehlt nun dafür Geld und Zeit und Möglichkeiten.

Mein Onkel starb alleine. Eine Freundin kämpft derzeit im Krankenhaus gegen den Krebs – alleine! Ich höre und lese von Menschen, die ihren Lebenskampf alleine verloren, Kinder, die alleine starben.

ES IST EIN VERDAMMTES SCHEISS GRUNDRECHT, NICHT ALLEINE LEBEN UND STERBEN ZU MÜSSEN!

Und wer so dermaßen hohl ist, über sowas „Gejammer“ zu schreien, sollte vielleicht einfach seine Schnauze halten und nichts mehr im Internet veröffentlichen, oder ich werfe vielleicht doch mal ein paar Molotovs gegen manche Webseiten.

Oder sagen wir so: Ich kann derzeit gar nicht so viel brechen, wie ich viele von Euch ankotzen möchte, Ihr superblasierten Heile-Welt-Seher!

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