Stadt des KdF-Wagens, 10. April 1945
Am Nachmittag kommt der Marschbefehl. Es ist völlig klar, dass dieser Einsatz ein Selbstmordkommando sein soll. Der Krieg ist verloren, oder wohl eher: endlich vorbei, das weiß fast jeder. Diejenigen, die den Marschbefehl bekommen wissen: Sie sollen kämpfen bis zum überflüssigen Ende.

„Mach Dir keine Sorgen“, sagt Herbert zu seiner Frau, „ich bin bald wieder da“.

Was er ihr nicht sagt: Er hat sich die Zivilkleidung unter seine Uniform gezogen. Das hat er mit einigen anderen aus seiner Einheit heimlich besprochen. Sie werden nicht kämpfen, da machen sie nicht mit.
Einzige unverlässliche Variante: Der Vorgesetzte. Bei dem hitlertreuen Kommandeur stehen die Chancen fifty-fifty, dass dieser die Waffe gegen die Deserteure hebt – das ist nach Armeerecht seine Pflicht. Herbert hofft, dass alle im entscheidenden Moment mitmachen werden, denn gemeinsam könnte es klappen. Herbert hofft immer, das ist sein naturell.

Herbert hatte auch gehofft, als Angehöriger eines „weißen Jahrgangs“, der nicht zur Wehrpflicht herangezogen wurde, nie den Hitler-Eid schwören zu müssen. Erfolgreich hatte er sich sogar während seiner Kurzausbildung darum gedrückt. Doch wenige Tage zuvor hatte das bürokratisch erstaunlich ausgefeilte System ihn entdeckt und er musste antreten. Worte, die so wenig bedeuteten und doch so viel.

Es wird Krieg geben, hat er immer wieder gesagt zu seinen Leuten, früher, noch in Schönlanke, schon vor 8 Jahren. Da wollte ihm aber niemand glauben. Er hatte „Mein Kampf“ gelesen und da stand es doch, schwarz auf weiß, was dieser Teufel vorhatte. Also war er mit dem Fahrrad direkt in die „Höhle des Löwen“ gefahren, knapp 500 Kilometer bis zur „Stadt bei Fallersleben“, und hatte sich einen Job in der neuen Autofabrik für den Volks-Wagen besorgt, in der jedoch schon bald Kübelwagen mit Hilfe von Zwangsarbeitern hergestellt wurden.
Die Ankunft der Zwangsarbeiter beobachtete Herbert durch den Bretterzaun. Er sah, wie die Toten herausgezogen wurden. Das konnte jeder sehen, der es sehen wollte.
Hier, mitten drin im Herzgebiet Hitlers, direkt beim Vorzeigeobjekt der Nazis und einem wichtigen Betrieb für das Kriegstreiben würde er mit seiner Familie vielleicht sicherer sein als irgendwo anders, hatte er spekuliert.

Untertauchen im Herz der Finsternis. Und er hatte Recht behalten – bis heute.

Es ist früher Abend als sie losgehen. Sie sind nur wenige Kilometer marschiert und kurz hinter der Stadt, da bleibt der Erste stehen. Sie schauen sich an und einer fängt an, seine Uniform auszuziehen. Der Kommandeur fängt an zu brüllen, was der da tue. Jetzt ziehen auch die anderen ihre Uniformen aus, alle machen mit. Der Kommandeur verstummt. Es ist klar, was sie da tun. Sie desertieren. Sie wollen nicht kämpfen und nicht sterben.
Der Kommandeur lässt sie gehen. Ob aus Mitgefühl, aus Hilflosigkeit oder weil er selbst dieses Kommando in Frage stellt, bleibt unklar.

Eine Stunde später ist Herbert wieder zu Hause bei seiner Frau. Er hat überlebt.

Herbert war mein Großvater, die Stadt heißt heute Wolfsburg. Diese Geschichte hat er mir erzählt, als ich etwa 12 Jahre alt war. Dass er den Hitler-Eid schwören musste, hat ihn lange verfolgt. Die Straße, die er damals entlang ging, liegt nahe beim Haus, in dem ich aufgewachsen bin.

Gerne wäre ich sie heute gegangen, mit Dir im Geiste. Machet jut, Opa, wir sehn‘ uns.