Häufig war ich schon hier, am S-Bahnhof Grunewald in Berlin, um eine Runde durch meinen Lieblingswald zu drehen. Das Schild „Gleis 17“ ist mir jedoch nie aufgefallen. Erst im Internet las ich, dass hier ein Mahnmal zur Erinnerung an die zu Tausenden von hier deportierten Juden existiert.
Das Mahnmal Gleis 17 am S-Bahnhof Grunewald
Es ist ein grauer Oktobertag, die Farben der Blätter verlieren sich ein bisschen im tristen Licht. Außer einem Schild im Tunnel mit der Aufschrift „Gleis 17“ deutet nichts auf den Gedenkort hin, der im Jahr 1998 von der Deutschen Bahn zur Erinnerung an alle von hier startenden Todeszüge errichtet wurde. Erst im Aufgang zum Gleis hängt seitlich ein Schild, das knapp über diesen Ort aufklärt.
Ursprünglich hatten sich mehrere Gruppen für ein Zeichen der Erinnerung eingesetzt, doch immer wieder wurden Gedenksteine gestohlen oder niemand kümmerte sich mehr darum. Erst in den 90er Jahren beauftragte die Deutsche Bahn AG das Architektenteam Nicolaus Hirsch, Wolfgang Lorch und Andrea Wandel mit der Umsetzung eines größeren Denkmals, dem Mahnmal Gleis 17.
Oben angekommen sehe ich zunächst nur den Bahnsteig und die zugewachsenen Gleise, bis mein Blick auf die Bahnsteigkanten fällt: Gusseiserne Platten mit Inschriften, jeder Meter ein Stück Erinnerung an jeden der Züge, die von hier ab dem 18. Oktober 1941 zuerst nach Łódź, Riga und Warschau starteten, später fast nur noch nach Auschwitz und Theresienstadt.
Zehntausende Menschen waren es insgesamt, die von hier ihre letzte Fahrt zum geordneten Massenmord antraten, teilweise am Zielbahnhof sofort erschossen, eingepfercht in Ghettos und Arbeitslager, unter unmenschlichen Bedingungen lebend, und letztlich ermordet durch Erschießen, Verhungern oder der perfektionistischsten Abartigkeit der Vernichtungslager: durch Ersticken in Gaskammern.
Der letzte Todeszug verließ den Bahnhof Grunewald im Februar 1945. Erst beim Entlanglaufen wird mir die Dimension bewusst.
So oft ich mich auch mit dem Thema beschäftige, darüber lese oder einen Stolperstein sehe: Was passiert ist, bleibt für mich unaussprechlich, bleibt so entsetzlich, dass nur kurze Momentaufnahmen vorstellbar scheinen, nicht aber das komplette Ausmaß. Vielleicht ist es mir deshalb so wichtig, ab und an innezuhalten, wie jetzt hier, im Oktober, nur kurze 72 Jahre nach der letzten Deportation von Frauen, Männern und Kindern durch die Nazis.
Namen sind nicht eingraviert, nur das Ziel und die Anzahl der Deportierten. Die Zahlen deuten darauf hin, dass die Todeslisten in Deutschland nicht immer akribisch geführt wurden: Die Zahl 100 erscheint einige Male, oder 1000, noch häufiger „101“, was für mich nach einem sehr sarkastischen „Pi mal Daumen“ klingt.
Auf manche Platten wurden zum Gedenken kleine Steine gelegt. Vor einer Gedenktafel am Ende des Bahnsteigs hat jemand eine weiße Rose und Blumen gestellt.
Langsam spaziere ich am Gleis entlang zurück und lese weiter die Zahlen und Ortsnamen. Das Gleis scheint sich dabei zu bewegen, mir wird schwindelig.
Am Ende angekommen, wuchern die Bäume bereits mehrere Meter aus dem Gleis heraus als wollten sie verdeutlichen: Von hier wird niemals wieder ein Zug fahren. Und das fühlt sich in diesem Moment irgendwie befriedigend an.
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Mehr Sehenswürdigkeiten und denkwürdige Orte im Grunewald habe ich in einem weiteren Artikel beschrieben: Der Grunewald: Tourentipps & Highlights |
Dieser und weitere Orte in Berlin und Brandenburg, die es auf meine Herzenswichtig-Liste geschafft haben, findet Ihr meinem neuen Buch Lieblingsplätze rund um Berlin im Gmeiner Verlag. Mein fünftes Buch in dieser Region war ein Herzensprojekt. |
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Dieser Artikel wurde im Februar 2023 aktualisiert.
Seit 15 Jahren ist Inka Redakteurin, Reisebloggerin und Autorin in Berlin und Brandenburg. Sie hat mehrere Reiseführer über die Region geschrieben und veröffentlicht ihre Tipps und Geschichten im Spiegel, Tagesspiegel und verschiedenen Magazinen. Außerdem Möchtegernentdeckerin, Liebhaberin der polaren Gebiete unserer Erde und abschweifend in der Welt. Hier Chefin vom Dienst.