Gestern war mir nicht nach schreiben, ich musste ein bisschen trauern, ein bisschen sortieren, ein bisschen ablenken.
Mein am Samstag verstorbener Onkel lebte in den USA, er und meine Tante haben mich einst vor einem grauenhaften Highschool-Austausch in West Virginia gerettet und bei sich in North Carolina aufgenommen. Dafür bin ich ihnen noch heute sehr dankbar.
Mein Onkel lag zum Schluss im Altersheim, wo er aufgrund des Coronavirus nicht mehr besucht werden durfte. Drei der vier Kinder konnten sich daher nicht mehr von ihm verabschieden. Meine resolute Cousine schleuste sich und meine Tante dennoch am letzten Tag ein, um Lebewohl zu sagen.
Ja, ich weiß, dass mir jetzt von einigen Menschen wieder an den Kopf geworfen wird, man hätte mir ja wohl „in den Kopf geschissen“ und was eigentlich mit mir „nicht stimme“, wenn ich sage, das verstehe ich. Und ich verstehe meine Cousine nicht nur, es macht mich heilfroh. Heilfroh, weil meine Tante jetzt etwas besser in dieser sehr schweren Zeit zurecht kommt. Heilfroh, weil mein Onkel zum Schluss noch liebevolle Hände drücken konnte.
Eine Trauerfeier wird nicht stattfinden, auch in den USA sind Beerdigungen mit Angehörigen nicht mehr erlaubt.

Ich finde es qualvoll, wie sehr derzeit mit so unendlich harschen Worten um sich geworfen wird, wenn Menschen bitter leiden. Und es leiden so verdammt viele.

Coronafakten

Wer eventuell jetzt erst einsteigt in die Thematik zu Daten und Fallzahlen, findet in einem Artikel von Quarks eine schöne Übersicht, was die Zahlen bedeuten – und was eben nicht.

Die Kritik an der so genannten „Heinsberg-Studie“ geht weiter (siehe auch Coronatagebuch #25). Und dann gab es da noch dieses Foto:

Zuerst wurde gemutmaßt, das sei doch ein Stockfoto, denn das widerspräche ja allen wissenschaftlichen Standards mit dem Umgang von Problem mit Risikostufe 3. Doch ein PR-Foto, auf dem zwei Einkaufskörbe zwischen „infektiösem“ und „normalem“ Müll trennen, ohne Beutel (siehe ganz links)? Das Foto ist also vermutlich echt und damit ein kleiner Hinweis darauf, wie es mit Standards und Überforderung in der Coronakrise derzeit aussieht. Ein bisschen Kommentare lesen hilft beim Galgenhumor.

Heute in aller Munde: Die Studie der Leopoldina mit einer Strategie und konkreten Handlungsvorschlägen zur „Rückkehr in die Normalität“.
Viele kritisieren die Studie als vorschnell, ich habe sie ebenso wenig gelesen wie vermutlich die meisten Kommentatoren, allerdings klingt bereits die Ankündigung in meinen Ohren schon fahl, wie auch viele Diskussionen derzeit über die „Exit-Strategie“ oder „wie es nach Ostern weitergehen soll“. Wie soll es schon weitergehen? Wir stehen am Anfang einer Pandemie, nicht mitten drin oder gar am Ende. Ich bin nicht sicher, ob das wirklich ins Bewusstsein der mehrheitlichen Bevölkerung gerutscht ist. Solche Formulierungen machen es jedenfalls nicht leichter zu verstehen, dass wir hier über mindestens 18 weitere Monate sprechen, die das Leben nicht annähernd so wie vorher sein wird – wenn wir weder Mittel noch Impfung finden, viel, viel länger. Von Normalität kann also keine Rede sein.

Ungleichheit

Vielerorts wird deutlich, wie falsch der Spruch ist, das Coronavirus mache keinen Unterschied zwischen Rang und Gesellschaft. Wie immer sind auch bei dieser Krise diejenigen zuerst gekniffen, die gesellschaftlich und weltpolitisch benachteiligt sind.
Bereits jetzt sterben in den USA überdurchschnittlich viele Schwarze, rassistische Äußerungen und Angriffe werden stärker. In Europa sind Chines:innen betroffen, in China Afrikaner:innen.

Ebenfalls gelesen: Ein Interview in der SZ mit Tobias Fechner von der Methadonambulanz Bochum, der sehr gut erklärt, wieso die derzeitigen Beschränkungen dramatisch für Suchtkranke sind, und dass hier leider schlimme Folgen zu erwarten sind. Interessant auch sein kurzes Statement, welche Folgen das Programm insgesamt abmindert:
Viele verstehen gar nicht, was wir da an gesellschaftlichen Folgen abfedern, indem wir Kosten für Krankenhaus- oder für JVA-Aufenthalte verhindern. Indem wir es hinkriegen, dass Mieten gezahlt werden, wo es sonst Räumungsklagen gibt. Und, und, und. Das wird einfach nicht gesehen. Natürlich ist das ein bisschen schade. Ich erwarte keine Dankbarkeit, aber ich erwarte vielleicht doch, dass das respektiert wird.

In verschiedenen Ländern Afrikas hungern bereits jetzt Menschen aufgrund von Ausgangsbeschränkungen und weniger Hilfslieferungen, die Intensivbetten pro Land sind häufig an wenigen Händen abzuzählen. Bis jetzt gibt es noch nicht viele Fälle, das dürfte sich in kurzer Zeit trotz der restriktiven Maßnahmen in vielen afrikanischen Ländern ändern. Denn was bleibt den Menschen schon, als dennoch zu versuchen, ihrer Arbeit nachzugehen?
Die Bill Gates Stiftung macht derzeit ebenfalls auf Afrika aufmerksam, gestern gab es dazu in den Tagesthemen ein interessantes Interview mit Gates.

Ich hoffe, dass Europa wenigstens in dieser Hinsicht vorangehen und diese Länder unterstützen wird, wenn es schon wie über Ostern geschehen bewusst mehrere Flüchtlingsboote vor Malta untergehen lässt, darunter Kinder. Ich bin kaum in der Lage, mir diese Nachrichten reinzuziehen, so derart schäme ich mich derzeit dafür.

Das Erste, was man tun kann: @ErikMarquardt folgen, liken, retweeten.

Müdigkeit

Schon einmal habe ich das Thema Müdigkeit angesprochen, dass viele Menschen in meiner Blase, die zumeist im Homeoffice arbeiten, über starke Müdigkeit und Erschöpfung am Abend klagen, und dass das kein Wunder sei, müssen doch viele Menschen im Homeoffice „nebenbei“ Kinder beschäftigen und beschulen, mehr Kochen, daher mehr Hausarbeit verrichten etcpp, dass aber vor allem auch die Situation emotional herausfordernd ist und daher erschöpft.

Eine meiner Lieblingsbloggerinnen, die Kulturwissenschaftlerin Indre Zetzsche hat nun die sehr spannende These aufgestellt, dass „wir die fehlenden sinnlichen Qualitäten kurzfristig kognitiv kompensieren und darum am Ende des Tages im Digitalbüro so viel müder sind als sonst„. Der ganze lesenswerte Text bei m-i-ma im Blog.

Ostern

Ostern haben wir verdammt ruhig verbracht, und weil nicht alle Kinder kommen konnten, haben wir sogar auf Eiersuche verzichtet. Auch spazieren gegangen sind wir trotz des schönen Wetters nicht, weil ohnehin klar war, dass sehr viele Ausflügler unterwegs sein würden, also haben wir weiter im Garten gearbeitet – ein echter Luxus in diesen Wochen. Immerhin: So früh im Jahr habe ich noch nie die Gartenstühle entstaubt und dieses Mal sogar mit Schutzöl gestrichen, auch das Hochbeet ist nun wettergeschützt.
Ich habe außerdem gelernt, wie ein Pfirsichbaum beschnitten werden muss. Unsere alten Bäume hatten sich verabschiedet, geblieben ist ein Nachkömmling, der bereits drei Meter hoch ist – ups.
Lagerfeuer gab’s dann auch noch, in der frisch angelegten Lagerfeuerstelle, und ich hatte sogar an Marshmallows gedacht. Marshmallows rösten war immer mein Highlight beim Grillen, als ich Kind war, ein Brauch, den jene Familie aus den USA zu uns gebracht hat – genau wie die „Soleier“, die wir Ostern immer essen.

Und zur Feier des Tages habe ich seit Wochen den ersten Artikel gelesen, der nichts mit Corona zu tun hatte, und zwar über die durchaus realen Stigmata mancher Menschen am Karfreitag. Sehr spannend und tatsächlich erklärbar – so man denn der Psyche relativ viel Macht unterstellt.

Ich nehme das als Motto mit, meiner Psyche in den kommenden Wochen auch mehr Macht zu unterstellen, die Macht, mit dieser Krise besser umzugehen, zu „copen“, wie man so sagt. Ab Morgen geht die Arbeit wieder los – 5. Woche im Homeoffice.

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