Welche Neurosen werden wir davontragen?

Ich bin wahnsinnig müde. Jeden Morgen habe ich Schwierigkeiten, meine Gedanken in den Tag zu bewegen, am Nachmittag stets ein dringendes Bedürfnis nach Mittagsschlaf, jeden Abend eine bleierne Müdigkeit.

Man sagt, Kinder schlafen viel, wenn deren Aufnahmekapazität erschöpft ist. Sie schlafen, um zu verarbeiten. Depressive schlafen viel. Mein Kopf befindet sich wohl irgendwo zwischen Bewältigungs-Phase und depressiver Verstimmung. Vielleicht Angst, die ich aber nicht erspüren kann, dafür das Gefühl, dass Morgen vieles schlimmer sein wird als heute.

Warten auf den Knall.

Ständig überlege ich, wo ich einen sinnvollen Beitrag leisten kann, worin jetzt meine Aufgaben bestehen, wozu ich mich äußern, wobei meine Schnauze halten sollte. Ich rechne herum, lese Zahlen, Statistiken, Meinungen und streite im Kopf weiter über Ausgangsbeschränkungen. Müde.

Stand heute

Heute Nachmittag wurden neue allgemeingültige Beschränkungen für ganz Deutschland herausgegeben, nur Söderns Bayern muss eine Extrawurst schieben. Söder und Laschet hätten sich, heißt es, im entsprechenden Meeting ordentlich gefetzt. Doch letztendlich waren die Einigungen der Bundesländer größtenteils da:

  • Keine Ansammlungen über zwei Personen, enge Familie und Wohngemeinschaften ausgenommen.
  • Das Bewegen in der Öffentlichkeit soll auf nötige Wege reduziert werden, darunter fallen allerdings auch (einzelne) sportliche Betätigungen oder Spazierwege.
  • Weitere Läden wie Frisöre und Restaurants müssen schließen, Take Aways ausgenommen.

Erstmals kam wieder mehr Ausland in der Tagesschau vor, was ich angenehm finde. Meine Medienbubble musste ich schon einigermaßen ausreizen, um Informationen über den Rest der Welt zu erhalten. In Slowenien hat eine rechte Regierung übernommen und Sondergesetze wegen Corona erlassen, allerdings ohne Verfallsdatum. Das heißt im Klartext: Demokratische Regelungen sind hier ausgehebelt.
Gottseidank gibt es in Deutschland genügend Leute, die zur Vorsicht mahnen, was Beschränkungen der demokratischen Freiheiten angeht, zumal nicht einmal klar ist, inwiefern diese überhaupt sinnvoll sind. Selbst Epidemiologen sagen, viel sinnvoller als breite extreme Beschränkungen seien möglichst viele Tests, um Infizierte und Kontaktpersonen komplett in Quarantäne nehmen zu können.
Das stimmt mich hoffnungsvoll, dass wir vielleicht doch bald mehr Tests haben können. Allerdings scheinen diese Tests endlich zu sein, behauptete Drosten neulich, er sprach von derzeit vielleicht 100.000 Tests die Woche, was nicht mehr sehr zu steigern wäre. Antikörper-Tests, von denen ich gestern schrieb, sind zwar einfacher, können nun aber nicht bei der Bewältigung der Pandemie helfen. Stellt sich die Frage, wieso Südkorea angeblich 10.000 Tests pro Tag schafft und wir nicht.

Ein paar Zahlen

Irgendjemand sprach davon, unser Gesundheitssystem würde 40.000 Neuinfektionen pro Tag verkraften, jemand anderes sprach von 400.000 gleichzeitig, was – sehr vereinfacht – 400.000 in 12 Tagen wären (da eine Infektion in etwa so lange dauert). Das wären dann ca. 33.000 pro Tag. Diese Zahl ist unglaublich gruselig, denn das wären gerade mal zwischen 12 und 15 Millionen – pro Jahr.
Für eine Herdenimmunität sind jedoch zwischen – das weiß man noch nicht so genau – 50-70% Immunität erforderlich, also irgendwas zwischen 40 und 60 Millionen…

Vermutlich ist es fahrlässig von mir, so etwas aufzuschreiben, weil ich nunmal überhaupt keine Ahnung von dem ganzen Zeug habe. Die Fragen sind aber in meinem Kopf, denn ich lese und lese und verstehe nicht, wie man gleichzeitig hoffen kann, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und diese Krise in ein bis zwei Jahren wieder los zu sein. Vielleicht stimmt auch die Zahl von 40.000 pro Tag einfach nicht.
Fragen über Fragen.

Das RKI hat inzwischen ein paar Beispielszenarien modelliert und in einem mehrseitigen Paper mit diversen Kurven veröffentlicht. Ich hab’s noch nicht komplett gelesen, nur überflogen, fand aber insbesondere die Abbildung 2 auf Seite 5 (leider fehlen Seitenzahlen) interessant. So erwartet das RKI in dem Fall, dass das Virus nicht saisonal bedingt abgeschwächt wird (wie z.B. die Grippe) den Peak der Erkrankungen im Juli und August. Weist das Virus eine leichte Saisonalität auf, würde der Verlauf abgeschwächt und der Peak um einiges schwächer im Oktober/November eintreten. Würde das Virus stark saisonal unterschiedlich sein (worauf derzeit nichts hinweist), würde sich das Problem eines recht hohen Peaks in den März/April verschieben (wieso nicht früher, verstehe ich noch nicht wirklich). Morgen werde ich mir das Paper einmal zu Gemüte führen, wenn ich aufnahmefähig bin, um die Zahlen und Theorien besser zu verstehen.

Ich bin allerdings sehr dankbar für diese Grafik, weil sie mir vermittelt, dass der ganz große Mist in 14 Monaten vorbei ist. 14 Monate, das ist endlich.

Coping – Bewältigungsstrategien

Und ich möchte ausdrücklich nicht meckern. Im Gegenteil: Ich finde, das Klatschen am Abend könnte auch ruhig mal unseren Politikerinnen und Politikern gelten, die sich derzeit den Hintern aufreißen, viel Arbeiten und dazu noch sehr, sehr unbequeme Entscheidungen treffen müssen, und das in einer völlig neuen Situation, für die es keinerlei Handbücher gibt (ich liebe berufsbedingt Handbücher). Sie haben selbst Angehörige, um die sie sich Sorgen, sind sicher auch überfordert, müde und müssen diese Krise nun hauptberuflich stemmen. Und ich habe den Eindruck, dass sie einen außerordentlich guten Job machen.

Ich habe es schon einmal gesagt, ich sage es noch einmal: Ich fühle mich in Deutschland derzeit extrem gut aufgehoben, und dafür bin ich sehr dankbar.

Und a propos Beifall-Klatschen: Dankbar bin ich übrigens auch, dass diese Krise schon jetzt eines bewirkt hat: Die ganzen ollen Nazis und Rechtsaußen-Kartoffeln sind aus meiner Twitter-Timeline praktisch verschwunden. Es scheint, als hätten sie zu dieser Krise nichts beizutragen, und das ist auch verdammt gut so.

Überhaupt ist Twitter derzeit mein Rettungsanker. Hier erfahre ich nicht nur ziemlich schnell, wo es Neues gibt, was in den USA los ist, wo Drosten falsch zitiert wurde oder was die neuesten Beteiligungsaktionen sind, hier bekomme ich die kreativsten Ideen und die besten Lachanfälle. Twitter, Du Heldin.

Und ich stelle fest: Ich bin offensichtlich jemand, der bei Krisen die Strategie „Wissensanhäufung“ anwendet. Das war mir vorher nicht bewusst.

Lösungen

Das Problem der Isolation wird immer mehr auf den Tisch gepackt, dafür bin ich sehr dankbar, weil das für mein Gefühl sehr vernachlässigt wurde. Wir benötigen Lösungen. Und Hoffnungen. Ich habe die Hoffnung, dass wir nachhaltige Lösungen finden, um das schon längst existierende Problem der Vereinsamung alter Menschen in den Griff zu bekommen.
Im Hackathon wurde immerhin, soweit ich das sehen konnte, das Problem der Isolation für junge Menschen erörtert. Ich bin gespannt, welche Ergebnisse das Wochenende gebracht hat.

Schon längst wollte ich sinnvolle Listen erstellen, Hilfeprojekte, kreative Ideen, wo man sich einbringen und unterstützen kann. Und jeden Abend bin ich zu müde vom Tag, als etwas anderes zu tun, als mein Hirn auf die Tasten zu leeren.
Aber morgen, morgen ist ja auch noch ein Tag.

Die Scheiße hat ja gerade erst begonnen.

PS: Zwei Empfehlungen des Tages gibt es doch noch von mir:

  • Der heutige Talk von Radioeins: Spannende Gäste, absolut hörenswert, angenehm tröstlich. Ich fands ein tolles Programm und hoffe, das wird kommenden Sonntag wiederholt.
  • Im heutigen Presseclub wurden diverse interessante Aspekte erörtert, und schönerweise wurde auch hier der Ausdruck des #SocialDistancing kritisiert. Der Mann und ich plädieren ja schon länger in eine Umbenennung in #PhysicalDistancing.

PPS: Hier hat heute Abend leider niemand die „Ode an die Freude“ musiziert, und uns war’s dann bisschen zu peinlich, das alleine zu tun. Vielleicht muss sich diese Aktion noch herumsprechen.

 

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